Anleitung zum Müßiggang
seiner selbst willen kann einen des Weiteren das Klima und ebenso das Arbeits-»Ethos« abschrecken. In dieser Woche verbrachte ich mehrere Stunden größtenteils mit Bummeln, durchsetzt mit energiesparenden Perioden von farniente -Trägheit. Aufmerksames Nichtstun ist sein eigener Lohn. Bloß herumzuhängen und zu sehen, was passiert ... Die Zeit in Gestalt von ein paar Minuten, in denen man herumschlendert und nichts Besonderes tut, heilt ... alle Wunden.«
In Mittelmeerländern findet man natürlich nichts von der Anti-Gemächlichkeit, die Meades beklagt. In Italien gibt es den Brauch der passeggiata, des Spaziergangs. Tatsächlich ist eines der ersten Dinge, die dem Italienbesucher auffallen, das langsame Gehtempo. Am Sonntagmorgen nach der Messe sieht man ganze Familien untergehakt im Schildkrötentempo die Kopfsteinstraßen entlangspazieren und sich über Essen, Wein, Familie und Philosophie unterhalten.
»Die passeggiata wird auch vor dem Abendessen gemacht«, sagte meine italienische Freundin Cristina, als ich sie bat, diesen Brauch zu beschreiben. »Es gibt bestimmte Routen, gewöhnlich hin und her auf il corso, der Hauptstraße des Dorfes oder der Stadt. Dabei kommt das ganze Dorf zusammen. Für junge Leute ist es dasselbe wie der Besuch im Pub bei euch: man sieht seine Freunde und trifft Jungs.«
In London waren es in den siebziger Jahren die Punks, die für kurze Zeit die Promenade oder passeggiata wiederbelebten. Sie schlenderten den ganzen Tag die King’s Road hinauf und hinunter, saßen auf Bänken, guckten in Schaufenster, lungerten herum und stellten ihre exzentrischen Kleidungsstücke zur Schau. Die Punks waren die letzten Flaneure.
Und wenn man sich in derart auffallender Weise bewegt, planlos, ziellos, wird man in temporeichen Städten wie London verdächtig. »Weitergehen, weitergehen«, sagen Polizisten zu Leuten, die herumstehen. Im Vorwurf des »vorsätzlichen Herumlungerns« drückt sich das Misstrauen der Behörden gegenüber dem Müßiggänger aus; ich meine, woher können sie denn wissen, dass ein Herumlungerer etwas Böses im Schilde führte? Sind sie Gedankenleser? Wird geargwöhnt, dass jemand, der nichts tut, zwangsläufig Dummheiten plant, wo es doch in Wahrheit nichts Harmloseres geben kann als einen Spaziergang?
Aber der Akt des gemächlichen Schlenderns ist ein Akt der Revolte. Es ist eine Demonstration gegen bürgerliche Werte, gegen zielgerichtetes Leben, Geschäftigkeit, Gehetze, Schufterei und Probleme. Für den schöpferischen Geist bringt der Akt des Schlenderns Arbeit und Spiel in Einklang. Für Walter Benjamin ist »der Müßiggang des Flaneurs [...] eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.«
Richtiges Spazierengehen ist ein geistiger wie körperlicher Akt. Wie geht man spazieren? Eines von Benjamins Zitaten im Passagen-Werk unterstreicht die Wichtigkeit, die Augen dabei offen zu halten: »Aus der Haustür treten, als sei man gerade aus einem fremden Land angekommen; die Welt entdecken, in der man bereits lebt; den Tag so beginnen, als sei man gerade vom Schiff aus Singapur gestiegen und habe noch nie seine eigene Fußmatte oder die Leute auf dem Treppenabsatz gesehen ... es ist dies, was die menschliche Natur vor dir enthüllt, unbekannt bis zu diesem Augenblick.«
Die große Epoche der flânerie in London war natürlich das achtzehnte Jahrhundert. In dieser Zeit stand der Begriff des vornehmen Beobachters in seinem Zenit. Man sehe sich nur einmal die Titel der Zeitschriften und Zeitungen an, die in diesem literarischen Jahrhundert gegründet wurden: Der Spectator, der Observer, der Tatler (Plauderer), der Wanderer, der Rambler (Flaneur), der Adventurer. Die Kunst, durch die Stadt zu wandern und mit sarkastischer journalistischer Unvoreingenommenheit in der Art von Addison und Steele und Johnson und anderen darüber zu berichten, entstand in diesen Jahren. Der Londoner Stadtflaneur des achtzehnten Jahrhunderts war lebensnaher und weniger deprimiert als sein Pariser Pendant ein Jahrhundert später, aber das lag vielleicht daran, dass die Gesellschaft noch nicht von der Industriellen Revolution heimgesucht worden war. Es gibt eine Reihe von Möchtegern-Dr. Johnsons, die heute für Zeitungen wie den Spectator schreiben, aber der Ton ist schwer hinzukriegen; in den letzten Jahren kam eigentlich nur die Kolumne »Low Life« des inzwischen verstorbenen Soho-Bummlers Jeffrey Bernard echter flânerie nahe. Er legte sich eine Art weltverdrossener Unbekümmertheit zu,
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