Anleitung zum Müßiggang
sieht man uns inzwischen allesamt mächtige Pappbecher mit Milchkaffee durch die Gegend schleppen. Wir kaufen Kaffee »zum Mitnehmen«, trinken ihn stehend an Ort und Stelle, im Auto, in der Eisenbahn, bei Konferenzen, ja sogar, und das ist die traurigste Art von allen, während wir allein durch die Straße gehen. Wir sind vom freudlosen Kaffeetrinken befallen und verseucht worden.
Kaffee ist was für Sieger, Draufgänger, Teeverächter, Mittagessen-Annullierer, Frühaufsteher, schuldbeladene Schwänzer, aufs Geld Versessene und statusbewusste, geistig hohle Irre. Er ist eine enervierende, kräftezehrende Macht. Wir sollten uns ihm widersetzen und uns zum Tee bekennen, dem uralten Getränk von Dichtern, Philosophen und Grüblern.
5 UHR NACHMITTAGS
Das Flanieren
Es ist eine Schande, dass das schöne englische Wort »pedestrian«, Fußgänger, heute in so einem abwertenden Sinn gebraucht wird. Mit »terribly pedestrian« verurteilen wir ein schöpferisches Werk, wenn wir sagen wollen, dass es schrecklich langweilig, gewöhnlich, unspektakulär ist. Es ist, als sei der anspruchslose Spaziergang öde und ereignislos geworden im Vergleich zu schickeren, schnelleren Beförderungsmitteln wie Zügen, Flugzeugen und Autos. Aber im Fußgänger, dem Schlenderer, dem Spaziergänger, dem Flaneur findet man den Inbegriff des Müßiggängers. Der Fußgänger ist die höchste und mächtigste aller Daseinsformen: Er geht aus Vergnügen zu Fuß, er beobachtet, aber mischt sich nicht ein, er ist ohne Eile, er ist glücklich in der Gesellschaft seines eigenen Verstandes, er schlendert distanziert, weise und fröhlich dahin, göttergleich. Er ist frei.
Die meisten aber, die durch die Straßen unserer Großstädte laufen, haben keine Freude daran. Sie benutzen ihre Beine lediglich, um von A nach B zu gelangen. Sie haben kein bisschen Spaß am Laufen; es muss einfach nur erledigt werden. Bei ihrem Laufen haben sie ein Ziel im Kopf: sich von der U-Bahnstation zum Büro zu bewegen, von der Bushaltestelle zur Fabrik, vom Sandwichladen zur Bank. Der Weg an sich ist unwichtig, reine Zeitverschwendung. Das Ziel ist das Wichtige. Wenn wir mit dieser Art Gehen beschäftigt sind, finden wir es schwierig, uns dem Augenblick zu überlassen. Wir laufen zielgerichtet, mit gesenktem Kopf, und starren auf das Pflaster. Ein Strom von Ängsten schießt uns durch den Kopf: Dinge, die zu tun sind, Dinge, die noch nicht getan sind, versäumte Verpflichtungen. Wenn jemand uns sähe, würde er den Eindruck bekommen: beschäftigt, wichtig, hat zu tun, muss wohin.
Es passiert furchtbar leicht, dass man in diese Art einsames Eilen verfällt, das in den Städten die Norm ist. Aus Vergnügen zu laufen ist etwas, das wir uns eher für Wochenenden und Ferien aufheben. Aber mit ein wenig Willensanstrengung ist es gar nicht so schwer, auch inmitten des Gehetzes und Getümmels des Arbeitstags eine nachdenkliche Einstellung zum Gehen zu entwickeln.
Das beste Beispiel für die Haltung, die ich gerade beschreibe, ist der französische flâneur. Flâneur bedeutet wörtlich Spaziergänger, Müßiggänger und wurde im neunzehnten Jahrhundert zur Beschreibung eines eleganten, vornehmen Typs des Spaziergängers verwandt, der ziellos durch die Pariser Passagen schlenderte, beobachtete, wartete, trödelte. Dessen Inbegriff war Baudelaire, der Anti-Bourgeois, der sich irgendwie aus der Lohnabhängigkeit gelöst hatte und dem es frei stand, durch die Straßen zu wandern, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben.
Der Philosoph und radikalpolitische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts Walter Benjamin war von der Idee des Flaneurs besonders fasziniert. Er schuf ein Riesenopus mit dem Titel Das Passagen-Werk, das ein Kompendium von Tausenden von kurzen Reflexionen und Aphorismen ist, die zum Teil seine eigenen, zum Teil Zitate von anderen sind. Es ist ein Klassiker der flânerie ; der Leser kann sich Benjamin mühelos vorstellen, wie er, das Notizbuch in der Hand, die Pfeife im Mund, Notizen über seine Beobachtungen macht, um sie abzutippen, wenn er wieder zu Hause ist. In diesem Werk teilt uns Benjamin zum Beispiel die folgende Preziose mit:
1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.
Eine Schildkröte an einer Hundeleine! Wie wunderbar. Und so viel beruhigender als ein hyperaktiver, schnüffelnder, jappender, prustender, pissender, dahinstürmender Hund. (Warum haben die Leute
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