Ann Kathrin Klaasen 08 - Ostfriesenfeuer
aus wie ein Mensch, der einen tiefen Blick in die Hölle getan hat und jetzt keinen Weg weiß, dem Grauen zu entgehen. Die Haare hingen strähnig herab. Sie machte, ganz anders als sonst, einen ungepflegten, ja desolaten Eindruck.
Sie war über Nacht um Jahre gealtert. Weller hätte man jetzt eher für ihren Sohn als für ihren Mann halten können. Ihre Schwäche schien ihm Stärke zu verleihen, so als würde der Held in ihm geweckt werden. Er war stets ganz nah bei ihr, darauf vorbereitet, sie zu stützen, wenn sie fiel, sie zu halten, falls ihre Knie nachgeben sollten.
Jutta Diekmann sah die beiden mit einer Mischung aus Mitleid und Eifersucht an. So einen Beschützer wie Weller hatte sie nie gehabt und redete sich ein, ihn nie nötig gehabt zu haben. So konnte sie wenigstens stolz darauf sein, statt traurig darüber zu werden, so etwas nie gekannt zu haben.
Eine Tatortgruppe unter Leitung von Udo Amerkamp war inzwischen von Norderney zurück und hatte einige Ergebnisse vorzuweisen. Ann Kathrin schätzte Amerkamp als Spezialisten für Daktyloskopie, der weit über den Tellerrand hinausgucken konnte und bei aller Spezialisierung nie die Gesamtzusammenhänge aus dem Auge verlor.
Er ahnte, in welchem Dilemma sie sich befand. Sie konnte ihm nicht zuhören. Sie war viel zu sehr mit der Sorge um ihren Sohn beschäftigt. Sosehr sie sich bemühte, auf die Ausführungen der Kollegen zu hören, es waren nur Geräusche, ein Klinkelklankel von Worten, die für sie keinen Sinn ergaben. Es war wie Barmusik, ein Hintergrundgeräusch, von ihren eigenen Sorgen und Gedanken laut übertönt.
Immer die gleichen Sätze gingen gebetsmühlenartig durch ihren Kopf: Er hat deinen Sohn. Alles, was du bisher gemacht und getan hast, alles, was du gelernt hast, war nur die Vorbereitung auf diese Prüfung hier. Du musst deinen Sohn retten, sonst wird alles andere sinnlos. Dein Beruf, dein Leben, deine ganze Existenz.
Weller saß neben ihr und legte eine Hand auf ihren Rücken, zwischen ihre Schulterblätter. Sie spürte die Wärme und die gute Energie, die von ihm ausging, konnte es aber kaum ertragen. Sie saß in einer Art Eisblock fest, doch er erreichte sie durch den Frost hindurch und sorgte dafür, dass sie nicht starr wurde vor Kälte und Angst.
Seitdem sie wusste, was mit Eike geschehen war, hatte sie nichts mehr essen können. Sie zitterte leicht, und ein Gefühl von Unterzuckerung machte sich breit.
Wie zur Erinnerung an Ubbo Heide lag ein Marzipanseehund auf dem Tisch, und Rupert machte sich daran, ihn zu schlachten. Mit einer viel zu schnellen, fast blitzartigen Bewegung schnappte Ann Kathrin sich den Kopf und ließ ihn in ihrem Mund verschwinden, so, als sei das Ganze eine strafbare Handlung, die unentdeckt bleiben müsste.
»Ich möchte«, sagte Jutta Diekmann theatralisch, »Ihnen das Mitgefühl aller Kollegen aussprechen. Wir wissen, was Sie jetzt durchmachen, und werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um …«
»Nein«, sagte Ann Kathrin, »das wissen Sie nicht. Ich wusste selbst bis vor kurzem nicht, was das bedeutet, und ich hätte es mir auch nicht vorstellen können.«
»Wir verstehen alle Ihre Verbitterung. Sicherlich ist es für Sie und den Fall besser, wenn wir Sie jetzt abziehen und Sie sich eine Ruhepause gönnen. Ein paar Tage Urlaub oder …«
Ann Kathrin veränderte ihre Sitzposition kaum, schob aber den Kopf vor, so dass sie geierhaft aussah. Dann hackte sie mit Worten auf ihre neue Vorgesetzte ein:
»Sind Sie wahnsinnig? Glauben Sie tatsächlich, dass ich jetzt Ferien mache? Ein bisschen Wellness oder was, damit es mir bessergeht? Vielleicht tötet er meinen Sohn gerade jetzt, in diesen Minuten. Vielleicht haben wir aber auch noch eine Galgenfrist. Wir sollten mit dem Smalltalk aufhören und mit der Arbeit beginnen. Wir müssen versuchen, Eike zu retten. Wir sind nicht ganz chancenlos. Wir haben einen Draht zu ihm. Er sucht den Kontakt zu Holger Bloem. Der ist vertrauenswürdig und arbeitet mit uns zusammen. Wir müssen herausfinden, was er als Nächstes vorhat …«
Rupert räusperte sich und wartete, bis ihn alle ansahen. Dann spielte er seine Karte aus: »Nun, was er als Nächstes vorhat, das wissen wir doch. Er ist ja gar nicht so schlau, wie wir alle dachten. Er macht diesen Spielfilm nach.
Das Gruseln kam um Mitternacht
oder so ähnlich.«
Weller hustete. »Bitte, was?«
»Na ja, gestern Abend war noch mal eine Wiederholung im Fernsehen. Meine Frau hat mir davon erzählt«, sagte
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