Ann Pearlman
Levy seinen Mittagsschlaf macht, backe ich die Plätzchen fertig. Es schneit noch nicht – der weißlich graue Himmel sieht aus, als könnte er sich nicht entscheiden. Schnee? Oder doch lieber ein bisschen Blau? Eine nette Schicht Hochnebel, die Sonne, Mond und Sterne vor uns versteckt? Außer unserem ist nur noch ein anderes Haus in unserer Straße nicht verrammelt, das von Darling, Sissys bester Freundin. Aber sie zieht direkt nach Weihnachten zu ihrer Tochter. Sissy wohnt immer noch in dem Haus um die Ecke und fährt mit dem Bus in ihrer Krankenschwesternuniform zum Krankenhaus und zurück. Inzwischen arbeitet sie allerdings nur noch Teilzeit.
»Komm mit mir, Schätzchen«, hat Darling sie gedrängt. »Die brauchen auch Krankenschwestern. Und Kirchen haben sie auch. Bleib nicht im Ghetto.«
Aber Sissy ist unerschütterlich. »Ghetto ist ein Geisteszustand. Für mich ist es kein Ghetto, sondern mein Viertel«, sagt sie und deutet nacheinander auf uns alle. »Motown wird wiederkommen, wartet’s nur ab. Anders als früher. Keine Millionen Menschen. Dafür vielleicht mehr Parks. Vielleicht urbane Landwirtschaft. Ja, das wär’s doch! Wir bauen gesunde Nahrungsmittel an! Wir werden zum Prototyp für grünes Leben, eine neue Community.« Sissy nickt begeistert. Und es sind nicht nur leere Worte, sie versucht ohnehin ständig, Aaron und die Crew dazu zu kriegen, sich den Gruppen anzuschließen, die sie mit ihrer Kirchengemeinde, dem Rathaus und ver schiedenen Geschäftsleuten angeleiert hat. »Wir brauchen Geld . Aber noch mehr als das brauchen wir Leute. Das ist alles. Ich weiß, dass wir es schaffen können. Jesus hat es vorgemacht, und er hatte nur seine zwölf Jünger.«
»Wir wollen ein Haus kaufen, vielleicht in den Vororten. Warum ziehst du nicht zu uns?«, hat Aaron ihr angeboten.
Aber auch dazu schüttelt Sissy den Kopf, dass ihre kurzen Dreadlocks hüpfen. »Pass nur auf, Junge. Wenn du hier weggehst, verlierst du womöglich auch deine Inspiration.«
»Ich dachte, die hab ich von dir. Bist du dann etwa nicht mehr meine Mom?« Ich finde es toll, wie sehr er seine Mutter liebt. Und ich finde es toll, wie tief verwurzelt Sissy sich mit ihrer Heimatstadt Detroit fühlt.
»Ich habe einen Traum. Es ist ein großer Traum, in dem wir das Land zurückgewinnen und fruchtbar machen. Ein Traum von einem Phönix, der aus der Asche emporsteigt. Wartet nur. Wir werden es erleben.« Mit einem Lächeln lehnt sie sich zurück.
»Ich bin fast so weit, dass ich dir glaube, Sissy«, sage ich.
»Ich auch«, pflichtet Darling mir bei. »Aber ich ziehe trotzdem zu meinem Baby-Girl.« Sie sieht Sissy an, und ihr Gesicht wird traurig. Wie schwer es ihr fällt, Sissy zu verlassen, wissen wir alle.
Als Levy aufwacht, sind die Kekse fertig. Zum Glück hat die Schürze verhindert, dass das Mehl und der Teig auch noch seine Klamotten einsauen, aber in seinen Haaren klebt ein bisschen. Inzwischen habe ich den Guss vorbereitet. Zuerst jedoch bekommt er seine Milch und ein paar Apfelstückchen. Dann setzen wir uns an den Tisch, den ich mit der Sonntagszeitung ausgelegt habe, und wir verzieren die Plätzchen mit dem Guss. Wir färben Kokosraspeln mit Lebensmittelfarbe schwarz, braun, rot und gelb und kleben sie mit Zuckerguss fest, als Schneemannhaare.
»Die haben alle Locken«, bemerkt Levy.
»Sieht ganz danach aus.«
Eine Weile hilft er, dann spielt er auf der Trommel, die Smoke ihm gemacht hat. Schließlich wird ihm auch das langweilig, er stellt den Fernseher an und drückt so lange auf die Fernbedienung, bis er gefunden hat, was er sich anschauen will. Er wird drei an Weihnachten. Erstaunlich, was er alles kann. Manchmal kommt er mir nicht wie ein Kind vor, sondern wie ein kleiner Erwachsener. Und manchmal ist er einfach wieder mein Baby.
Ich betrachte meine Schneemänner. »Hey, Levy, wie findest du sie? Komm mal her und schau sie dir an.«
Levy fängt an, die Plätzchen zu arrangieren, einen Mann, eine Frau, ein Kind. »Das sind wir.« Dann nimmt er noch zwei weitere und sagt: »Das ist Big Ma und das Nana.«
Ich nehme auch zwei und sage: »Sky und Rachel.«
Nachdenklich betrachtet er unsere Familie mit den drei und Skys Familie mit den zwei Leuten. »Was ist mit Rachels Daddy passiert?«
»Erinnerst du dich nicht mehr? Er ist gestorben. Als wir in L. A. waren.«
»Ich weiß. Ich meine, was ist passiert ?«
»Du weißt nicht, was Sterben bedeutet?«
»Daddy sagt, es bedeutet, dass der Körper aufhört«, zitiert er
Weitere Kostenlose Bücher