Ann Pearlman
dessen Bauch fast bis zum Boden hängt. »Sie arbeiten immer noch an einer Entscheidung über die Zukunft der Welt und den Sinn des Lebens.« Er lacht leise, und seine Stimme klingt seltsam dumpf, als käme sie mitten aus einem Wirbelsturm. Unwillkürlich schaue ich nach, ob er am Hals irgendwelche Narben von einer Operation hat, die das Echo erklären könnte. Aber ich sehe nur einen Hals mit angegrauten Bartstoppeln und einem vorstehenden Adamsapfel, ohne die für einen älteren Mann üblichen Falten und Runzeln.
David ist ein attraktiver Mann, sehnig und fest, der Marlboro-Mann mit einem sanften Einfühlungsvermögen, das zum Vorschein kommt, wenn er seine Tiere berührt.
Auf einmal erhebt sich aus dem Dachstuhl der Scheune ein Schwarm weißer Tauben und schwingt sich in den tiefblauen Himmel. Auf lautlosen Flügeln flattern sie durch die Luft, als würden sie uns ein choreographiertes Ballett vorführen.
Der Duft von Salbei und Heu steigt mir in die Nase, dazu irgendein süßes, moschusartiges Aroma.
David schaut wieder zum Himmel, dann sieht er Happy Buddha und Mohammed eine Weile beim Fressen zu. Mohammed reibt das Kinn an Happy Buddhas Rücken.
»Da«, ruft David plötzlich und streckt die Hand aus, »man muss schnell hinsehen, sonst verpasst man sie.« Ein Präriehund hebt seinen Kopf, die Pfoten wie zum Gebet aneinandergelegt, piepst und verschwindet blitzschnell wieder in seiner Erdhöhle. Im gleichen Moment kommt ein großer Hund zu David gelaufen und setzt sich neben ihn. »Das ist Misty«, sagt David und legt die Hand auf den Kopf des Tiers.
»Ich dachte, er wäre ein Kojote.«
»Fast, aber nicht ganz. Ich hab ihn im Tierheim gefunden.«
Auf einmal fällt mir ein, dass ich heute nicht um 3 Uhr 42 aufgewacht bin. Waren wir um die Zeit schon hier oder noch im Auto? Keine Ahnung. Aber heute Morgen sehe ich den Himmel, die Pracht seiner Farben, ich sehe den Frieden der Tiere und ihre Liebe zu diesem Mann, der sich um sie kümmert.
»Magst du Kunst? Hast du Lust, dir mein Studio anzuschauen?«, wechselt er unvermittelt das Thema.
Soweit ich sehen kann, gibt es keine anderen Häuser in der Nähe, nur ein Tal umringt von Bergen und Zäune, die das Land unterteilen. Ansonsten nur das Adobe-Haus, in dem wir übernachtet haben, und ein paar Nebengebäude. Aber hinter der Scheune kommen wir zu einem kleinen Holzgebäude mit großen Fensterfronten und einer Veranda.
Drinnen hängen Hunderte Pinsel an verschiedenen Haken, eine große Staffelei mit einer leeren Leinwand beherrscht den Raum, und hinter ihr lehnt ein Landschaftsgemälde in kräftigen Farben – ein Querschnitt durch die Erde. Man sieht Wurzeln auf der Suche nach Nährstoffen, Pflanzen, die ihre Blätter der Sonne und dem Regen entgegenrecken. Die Szene ist durchdrungen von einem Gefühl für den Zusammenhang von Erde, Wurzeln, grünen Pflanzen, Wasser und Licht.
In den Erdfurchen glitzert Schnee, und ich kann fast sehen, wie er schmilzt und die Pflanzen nährt.
»Letzte Woche hatten wir den ersten Schnee, aber er hat sich nur ein paar Stunden gehalten, dann wurde er von der Sonne geschmolzen und von der Erde aufgesogen. Jetzt existiert er nur noch auf diesem Bild«, erklärt er und deutet mit dem Daumen darauf.
Die Pinselstiele sind aus Zweigen gemacht, die Rinde abgeschält oder mit eingeschnitzten Symbolen versehen, verschiedene Haarborsten bilden unterschiedlich geformte Spitzen – schmal zulaufend, fächer- und keilförmig. Manche sind wimperndünn, andere dreifingerdick.
Als David bemerkt, dass ich sie anstarre, erklärt er: »Ich mache meine Pinsel selbst. Mija, Happy Buddha und Wisdom, mein Ziegenbock, der gerade mit der Ziegenfrau in der Stadt zugange ist, steuern ihre Borsten bei.«
Ich strecke die Hand aus, um die Pinsel zu berühren, halte mich aber in letzter Sekunde zurück und frage: »Darf ich?«
»Ich freue mich, dass meine Pinsel dich zum Sprechen inspirieren. Das sind die ersten Worte, die du zu mir gesagt hast.« Er klingt erleichtert.
Vermutlich ist er das auch.
»Ich stelle gern Sachen her«, erklärt David achselzuckend, als wäre das keine große Sache. »Genau genommen muss ich Sachen herstellen, ich kann die Hände einfach nicht stillhal ten. Zwischen zwei Bildern mache ich Pinsel oder baue Häuser oder arbeite an meinem Koi-Teich.« Es hört sich an wie eine Information, nicht wie eine Erklärung. Es ist, wie es ist. Er ist, wie er ist. Ganz einfach.
Ich gehe zu den Gemälden, die an der Wand lehnen.
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