Anna, die Schule und der liebe Gott
wissen, wie die grammatikalischen Bezeichnungen heißen, die man intuitiv benutzt? Falls Sie dieser Ansicht sind, bitte ich Sie, mir zwei Fragen zu beantworten. Zu welcher Wortgruppe gehört » manche «? Und wozu gehört » dort « ? Glückwunsch, wenn Sie das wissen, Sie haben es ja schließlich einmal in der fünften Klasse gelernt – zumindest wenn Sie ein Gymnasium besucht haben. Wenn Sie es nicht wissen, schadet es aber auch nichts. Sie sitzen dann in einem Boot mit 88 Prozent aller Germanistikstudenten, die ebenfalls nicht wussten, dass » manche « ein Pronomen ist und » dort « ein Adverb. 118
Kaum jemand muss das wissen, nur ein Sprachwissenschaftler oder eventuell ein Lehrer, der Deutsch für Nicht-Muttersprachler unterrichtet; aber wahrscheinlich ist es noch nicht mal dazu etwas nütze. Wie schon am Beispiel des Konsekutivsatzes gezeigt, reicht es völlig aus, ihn zu beherrschen. Unwichtig dagegen ist es, das Beherrschen mit einem Etikett deklarieren zu können.
Der Bildungsexperte und Dokumentarfilmer Reinhard Kahl berichtet von einer hübschen kleinen Begebenheit an einer der besten Grundschulen Berlins, der – wie alle Berliner Grundschulen – sechsklassigen Erika-Mann-Grundschule im Wedding. Obwohl 85 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien stammen, liegt die Schule bei Vergleichsarbeiten 25 bis 30 Prozent über dem Durchschnitt. Die Kinder lernen hier Deutsch vor allem beim Theaterspielen und nicht durch Grammatikunterricht. Eines Tages kam ein Schüler der sechsten Klasse mit Sorgen zur Schulleiterin Karin Babbe: » Zwar habe er im Zeugnis eine Empfehlung für das Gymnasium stehen, aber er wolle wohl doch lieber zur Realschule. ›Warum denn das?‹, fragte die Schulleiterin. ›Na, ich kann schon völlig grammatikfrei Sätze sprechen, aber schriftlich mache ich noch viele Fehler.‹ Karin Babbe ist begeistert von dieser Fehlleistung: ›Grammatikfrei sprechen – ist das nicht eine wunderbare Erfindung?‹ Der Schüler habe erkannt, worum es geht, das heißt noch nicht ganz, denn etwas mehr Gelassenheit bei den schriftlichen Fehlern wäre ihr lieber. ›Kommt noch‹, fügt sie hinzu. « 119
Deklaratives Wissen über den eigenen Sprachgebrauch müssen Kinder nicht lernen. Denn damit wird – in Relation zu seinem Wert für das Leben – das Tote viel zu wichtig genommen. Soll man, wie die PISA -Studie es getan hat, Deutschkenntnisse messen wie Latein? Und dann schlimmstenfalls aus vielen schlechten Ergebnissen folgern, dass man noch mehr Grammatik in der Schule unterrichten sollte? Damit die Kinder zu Hause noch länger über Grammatik-Arbeitsblättern sitzen wie Henning Sußebachs Tochter Marie: » Kreuze die richtigen Aussagen an! Der Genus ist das grammatische Geschlecht eines Nomens / Nomen können im Singular und im Plural auftreten. Dies nennt man den Kasus des Nomens / Der Numerus ist der Fall, in dem ein Nomen steht / Man kann Präpositionen steigern / Der bestimmte Artikel gibt im Nominativ Singular das grammatische Geschlecht eines Nomens an / Der Imperativ gehört zu den finiten Verbformen / Präsens wird benutzt, wenn man über etwas sagen kann: Es war gestern so, ist heute so und wird auch morgen so sein / Das Partizip I gehört zu den infiniten Verbformen / Verben kann man deklinieren. « 120
Man sollte daran denken, was Hirnforscher wie Manfred Spitzer oder Gerald Hüther über » gehirngerechtes Lernen « sagen, nämlich dass » das Allgemeine an Beispielen gelernt wird – und gerade nicht durch das Auswendiglernen von Regeln oder Techniken«. 121 Umgekehrt folgt: Fakten, die nicht als Beispiele für einen allgemeinen Zusammenhang stehen, sind dem Lernen für ein Leben wenig förderlich. Und ein rein deklaratives Wissen über Grammatik, so darf man hinzufügen, ebenfalls nicht.
All die langweiligen Sprachbücher verschwinden damit aus dem Unterricht, sie passen ohnehin nicht zum Geist von Projekten. Ich kenne unter meinen Freunden und Kollegen nicht einen Schriftsteller oder Wissenschaftler, der nicht hin und wieder orthografische Fehler macht. (Die Einzigen, die ich kenne, die völlig fehlerfrei schreiben, sind pensionierte Studienräte, deren Hauptvergnügen darin liegt, die Bücher von Schriftstellern nach orthografischen Fehlern zu durchsuchen, um sie dann laut seufzend über deren Unfähigkeit den Autoren zuzusenden: » Erst mal richtig Deutsch lernen, dann Bücher schreiben! « Es ist geradezu bestürzend, wie oft das in unserem Land passiert.)
Wichtiger als
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