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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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deklaratives Wissen über Grammatik und fehlerfreies Schreiben ist es, sich variantenreich und elegant ausdrücken zu können, und zwar sowohl schriftlich wie auch mündlich. Ein guter Sprachunterricht ist mindestens in gleichem Maße Sprech unterricht. Sollte ein Schüler, der die Schule verlässt, egal ob nach dem zehnten oder dreizehnten Schuljahr, nicht in der Lage sein, sich verständlich auszudrücken, dazu in der richtigen Lautstärke, nicht zu schnell, deutlich und ohne » Äh’s « ? Sollte er nicht lebendig sprechen, ohne einzuschläfern oder zu Boden zu schauen? Wäre es nicht gut für sein weiteres Leben, wenn er seine Hauptsätze nicht alle nur mit » und « aneinanderreihte, sondern das, was er sagen will, in Haupt und Nebensätze gliedern könnte? Wenn er die Endungen nicht verschluckte, die richtige Atemtechnik hätte und auf sinnvolle Akzentuierung und Betonung achtete? Und hört man nicht gern jemandem zu, der ohne die übliche Leierei vorlesen kann oder – noch besser – die Kunst beherrscht, auch vor einem Auditorium selbstbewusst und elegant frei zu sprechen?
    All dies sollte man in der Schule lernen. Denn reden zu können ist eine der wichtigsten Fähigkeiten im Leben und Berufsleben überhaupt. Und dazu braucht man von Kindheit an viel Training. Doch so wie wir das Kognitive gegenüber dem Nicht-Kognitiven in der Schule zu stark gewichten, so auch das Schriftliche gegenüber dem Mündlichen. Der Grund dafür ist ziemlich schlicht und liegt in der Logik des klassischen Systems. Während sich Grammatikfehler transparent in Ziffern-Zensuren ausdrücken lassen, ist das bei mündlichen Vorträgen so eine Sache. Wie die PISA -Studie dazu geführt hat, dass man das leicht Messbare in den Schulen höher gewichtet als das Nicht-Messbare, so ist die andauernde Verschriftlichung von allem und jedem eine Folge von Ziffern-Zensuren. Fallen diese weg, ist der Bann gebrochen, der das Tote gegenüber dem Lebendigen überbewertet.
    Auch wenn es auf den ersten Blick wie ein Widerspruch aussehen mag, möchte ich hier ein kleines Plädoyer für das Auswendiglernen halten. Zwar sind unsere Gehirne, wie gesagt, von der Evolution nicht dafür gemacht, zwanzig Seiten im Erdkundebuch auswendig zu lernen, um sie im Test wiederzukäuen. Aber mit schönen, lebendigen und rhythmisierten Texten verhält sich die Sache anders. Ein großartiger Monolog aus einem Theaterstück bleibt ganz anders im Gedächtnis haften als eine Abhandlung über die Erzgewinnung im Norrbotten oder die Phasen der Mitose. Und Schillers Die Bürgschaft wird dann lebendig, wenn man sie nicht nur auswendig lernt, sondern die perfekte Dramaturgie dieser antiken Räuberpistole in ein modernes Drehbuch verwandelt, an dem eine Gruppe gemeinsam arbeitet. Im Vortrag lernt man weit mehr über den Sprachrhythmus als in jeder Kurzabhandlung über Daktylus, Trochäus, Jambus und Anapäst.
    Im Umgang mit Literatur wäre es eine gute Regel, das Selbermachen vor oder neben jede Interpretation zu stellen. Wozu und zu welchem Ende interpretiert man eigentlich in der Schule Literatur? Gemeinhin würde man sagen, um über Literatur Bescheid zu wissen und interpretieren zu lernen – aber warum ist das wichtig? Man kann auch lebendige soziale Situationen interpretieren oder Filme. Die besondere Ästhetik literarischer Kunstwerke jedenfalls teilt sich in den schematischen Zergliederungen vieler Deutschstunden nicht mit. Wer glaubt, die Kunst der Interpretation bestehe darin, aus einem Buch herauszupumpen, was der Autor einmal gut versteckt hineingefüllt hat, hat Literatur nicht verstanden. Ein Kunstwerk wirklich zu verstehen, setzt eigentlich voraus, dass man sich selbst einmal daran versucht hat. Keine Gedichtinterpretation also, bevor man sich als Schüler nicht einmal (unter Hilfe) bemüht hat, ein Gedicht zu schreiben. Was überflüssiges Wissen zu sein scheint, zum Beispiel ein Reimschema, erweist sich auf einmal als nützliches Handwerkszeug. Und selbst wenn das mit den eigenen Werken nicht ganz so großartig ausfällt, so lernt man auf diese Weise gleichwohl die Kunst der Lyrik überhaupt als eine solche anzusehen.
    Selbst ein perfekt ausgebildeter Deutschlehrer muss dafür nicht der richtige Mann oder die richtige Frau sein. Aber wie wäre es, das Projekt mit einem leibhaftigen Schriftsteller durchzuführen? Creative Writing zu lernen bei einem Meister seines Fachs? Unter den vielen deutschen Autoren, die ästhetisch anspruchsvolle Werke schaffen, leben

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