Anna, die Schule und der liebe Gott
auf eine soziale Realität trifft. Im Projekt wird es durch andere Formen des Lernens ergänzt und kann sich darin bewähren. Dabei gibt es Vorhaben, bei denen man am besten mit Gleichaltrigen lernt, und andere, die altersübergreifend interessant sein können.
Die Idee eines solchen » Gesamtunterrichts « stammt aus den Tagen der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts und hat mindestens zwei Väter: Peter Petersen (1884 –1952) und Berthold Otto (1859 –1933). Beide setzten sich – der eine in Jena, der andere in Berlin – für jahrgangsübergreifenden Unterricht ein und für ein möglichst gemeinschaftliches Lernen und Zusammenarbeiten der Schüler im Unterricht, in Gesprächskreisen, Ritualen, Spiel und Sport. Sie erkannten den Ansteckungs- und Motivationseffekt, wenn Kinder und Jugendliche sich für etwas begeistern können und sich anstacheln und anspornen. Auch Washburne hatte sich von der deutschen Reformpädagogik inspirieren lassen.
Die Frage, wie effektiv solches Lernen ist, ist ein vermintes Terrain der Pädagogik mit entsprechend hartnäckig geführten Glaubenskriegen. Vermutlich sollte man gar nicht versuchen, sie pauschal zu beantworten. Mathe kann man (mit Unterstützung) ganz gut allein lernen, wahrscheinlich sogar besser; das Gleiche gilt für Latein. Dass man Fußball hingegen nur im Verbund mit anderen etwa Gleichaltrigen spielen lernt, dürfte evident sein. Aber auch, dass man zum Schach keinen gleichaltrigen Gegner braucht, sondern einen ungefähr gleich starken. Ein Kunstprojekt ist ebenfalls keine Frage des Alters, sondern vor allem des Interesses und der Leidenschaft. Und auch zum Singen, Tanzen und Musizieren braucht man nicht gleichaltrig zu sein, sondern vergleichbar befähigt und motiviert.
Das Wort » Projekt « hat dabei nicht nur einen guten Klang. Der eine oder andere denkt an die » Projektwoche « , die seit den siebziger Jahren an Schulen erprobt wurde; ganz hübsch, aber eben oft auch nur das. Und wenn man in Berlin am Prenzlauer Berg einen ausgeruhten, Cappuccino schlürfenden Menschen unter fünfundvierzig in einem Café sieht, das Notebook aufgeklappt, ein Kind in der Nähe herumwuselnd und eine Gefährtin im Trümmerfrauen-Look irgendwo dabei, ebenfalls mit Cappuccino und Notebook ausgestattet, und beide fragt, was sie denn beruflich so machen, dann antworten sie vermutlich: » Projekte. «
Projekte in der Schule sind dagegen nichts Ungefähres, sondern ein Bereich, der keinem begrenzten » Fach « entspricht. Fußballspielen zum Beispiel ist kein Fach, dafür wäre es zu klein. Auch die Goethezeit ist kein Fach, weil sie durch keine Fächergrenze einzuhegen ist. Man sollte dabei mithin überdenken, was für ein merkwürdiges Kunstprodukt » Fächer « eigentlich sind. So musste ich zu meiner Schulzeit den Eindruck bekommen, der liebe Gott oder die Natur habe die Welt in Form eines Apothekerschrankes erfunden, bei dem jede Ausziehschublade ein anderes Etikett hatte: Mathematik, Physik, Biologie, Geschichte, Englisch usw. Aber in der Welt außerhalb der Schule hängen all diese Gebiete untrennbar miteinander zusammen; ein Zusammenhang, der durch Schulbildung oft nicht klar wird. Doch wenn es richtig ist, dass Verstehen bedeutet, etwas auf etwas anderes zu beziehen, dann blockieren die Demarkationsgrenzen zwischen den Fächern den Erkenntnisgewinn und zügeln die Neugier.
Wenn man nur im Rahmen eines Fachs und nur für eine Klausur oder ein Zeugnis lernt, warum sollte man das Gelernte nicht wieder vergessen? Es knüpft sich ja meist nichts anderes daran an (außer in Mathematik, wo vieles, wie gesagt, aufeinander aufbaut und Fähigkeiten und Lücken weitertransportiert werden). Aber wenn nach einem halben Jahr Stoffwechselphysiologie Genetik auf dem Plan steht, darf ich mein Wissen über Apo- und Coenzyme getrost wieder vergessen. Von dem, was ich zwei Jahre zuvor über Moose, Flechten und Pilze gelernt habe, ganz zu schweigen. So kann ich glatt durch die Schule kommen – und habe am Ende nichts begriffen. Denn natürlich hängt all dies aufs Engste zusammen. Ich erinnere mich daran, meine Biologielehrerin einmal gefragt zu haben, wo sich Enzyme im Körper eigentlich befinden? Im Darm? In allen Zellen, die unmittelbar am Stoffwechsel beteiligt sind? Oder in jeder Körperzelle? Gibt es in meinen Hautzellen Enzyme? Meine Lehrerin gab mir damals keine Antwort. Wusste sie es überhaupt? Wissen Sie es? (Schauen Sie nicht bei Wikipedia nach. Da finden Sie sechs
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