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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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werden und möglicherweise darüber sitzen bleiben. Vermutlich würden diese Denker und Wissenschaftler den Lehrern davon erzählen, mit welcher Begeisterung sie Zusammenhänge entdeckt und interpretiert haben und welches Feuer in ihnen dabei brannte. Ist es denn so ausgeschlossen, etwas von dem Geist zu vermitteln, aus dem die Forschungen und Werke heraus entstanden? Denn nur dann kann man sie wirklich verstehen. Dafür muss man die Frage nach der Frage stellen, worauf Isaac Newtons Himmelsmechanik eigentlich die Antwort war. Man sollte das Problem verstehen, das Kant mit seiner Transzendentalphilosophie lösen wollte und warum es ihm so wichtig war. Man sollte verstehen, warum Goethe im Faust die kapitalistische Ökonomie von Adam Smith auf die Schippe nimmt und dem Teufel in den Mund legt. Man sollte die Logik eines Krieges wie des Dreißigjährigen begreifen, die sich heute in vielem vergleichbar in den Warlord-Gesellschaften Afghanistans und Somalias wiederholt. Und man sollte lernen, die historische Figur Jesus im Kontext ihrer Zeit zu verstehen und warum sein Wirken gegen jede Wahrscheinlichkeit so unglaublich erfolgreich wurde.
    Man würde auf diese Weise lernen, dass große Leistungen in Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst häufig dann erbracht werden, wenn ein Transfer hergestellt wird, eine neue Verbindung zwischen bekannten Dingen, eine ungewöhnliche Anwendung über die Fächergrenzen hinaus, die den Horizont erweitert. Charles Darwins Theorie der natürlichen Selektion ist nicht die Blitzeingabe eines Genies beim Anblick von Finken auf den Galápagosinseln, sondern eine Transferleistung. Den Zusammenhang von natürlicher Auslese und Reproduktionsquote kannte der britische Naturforscher aus den Schriften eines Landsmannes, des Nationalökonomen Thomas Robert Malthus. Und die Idee von der Veränderlichkeit der Arten hatten schon viele andere vor ihm gehabt, die Franzosen Georges-Louis Leclerc de Buffon, Denis Diderot, Jean-Baptiste de Lamarck und Étienne Geoffroy Saint-Hilaire. Aber erst die Kombination von beidem, natürlicher Auslese und Transmutation, führten zum Durchbruch der Darwinschen Evolutionstheorie. Desgleichen zeigt sich fast überall, selbst in der Unterhaltungsliteratur. Joanne K. Rowlings Harry-Potter -Romane oder Das Parfum von Patrick Süskind verdanken ihren Erfolg zu einem hohen Anteil dem pfiffigen Mix von Genres. So kombinierte die englische Schriftstellerin das beliebte Genre des Internatsromans à la Enid Blyton mit dem ebenso beliebten Fantasy-Genre im Fahrwasser von J. R. R. Tolkien. Und am Ende stand eine zauberhafte Kombination. Desgleichen gilt für Süskind, der das in den achtziger Jahren so beliebte Krimi-Genre des Serienkillers mit dem gerade durch Umberto Eco aufgeblühten Historienroman verband. Sogenannte Genies sind selten deswegen Genies, weil sie nur über hochspezialisiertes Wissen verfügen. Im Gegenteil: Die meisten Hochspezialisierten sind zwar sehr intelligent, aber leider gerade oft nicht in der Lage zu überraschenden Transfers; es fehlt die kreativ-künstlerische Komponente.
    Um solche Transfers zu erbringen, braucht man Fachwissen. Aber man darf sich nicht nur an den Mauern eines Fachs entlangtasten. Stattdessen benötigt jemand ein mentales Modell, eine imaginäre Karte des Wissens, innerhalb derer man den eigenen Standort lokalisiert. Neues wird dann erschlossen wie eine unbekannte Gegend in einer Stadt mit all den bislang verborgenen Wegen, Gassen und Sehenswürdigkeiten. Dafür aber braucht es einen Unterricht, der die Erkundungsreise auch verlockend erscheinen und Spielraum für eigenes Streunen lässt – und das geschieht am besten in gemeinsamen Projekten.
    Beispiel: Deutschunterricht
    Deutsch kann man nicht durch Mastery Learning lernen. Man kann hier nicht einfach nur fortschreiten von einer Lernstufe zur nächsten und sein Denken dabei vernetzen. Deutsch ist etwas, was man durch Sprechen und Schreiben lernt, durch Erklären, Fragen, Diskutieren, Deklarieren, Witze erzählen, Wortspiele machen, Theater spielen und ganz viel lesen. Wer nicht flüssig lesen kann, dem bleiben Welten der Sprache verborgen. Eine Sprache lernt man, indem man etwas tut. Deutsch ist etwas, das man im Verbund mit anderen lernt. Wenn man liest, denkt man mit einem fremden Gehirn, und wenn man diskutiert, spielt man geistiges Blitzschach mit einem Gegenüber.
    Deutsch ist eine lebendige Sprache, und dazu gehört, dass man ihre Grammatik beherrscht. Aber muss man zugleich

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