Anna, die Schule und der liebe Gott
Seiten; aber wo Enzyme im Körper vorkommen, erfahren Sie dort ebenfalls nicht.)
Wissen, das so vermittelt wird, ist kein Wissen. Es ist Schon-mal-gehört-Haben. Und das verhält sich zu Wissen wie » gut « zu » gut gemeint « . Menschen, auch Kinder, schützen sich vor dem, was ihnen irrelevant erscheint – ein sehr gesunder Mechanismus. Und etwas, das man für ein als lästig empfundenes kurzfristiges Ziel gelernt hat, speichert man nicht als Zusammenhang, sondern man ist quitt mit der Sache. Und mit genau dieser perfekt eintrainierten Haltung geht man später möglicherweise an eine Universität, um sich dort ähnlich energiesparend durchzuhangeln und ein » Schein « -Studium zu machen. Zumindest in den Geistes- und Wirtschaftswissenschaften ist das leider ziemlich perfekt möglich.
Es ist wirklich ein Witz, dass wir es noch immer für normal halten, dass Kinder und Jugendliche an einem Tag erst eine Stunde Mathe haben, danach eine Stunde Geschichte, dann zwei Stunden Englisch, anschließend eine Stunde Chemie, gefolgt von einer Stunde Politik. Was soll da im Kopf eines Schülers für ein Verstehenszusammenhang generiert werden? Die Antwort ist: gar keiner! Es wird schlichtweg Stoff abgefüllt. Dagegen stelle man sich einen Tag vor, an dem man sich nach zwei Stunden Mastery-Learning (mit Bewegungspausen) für drei Stunden in den Geist der Goethezeit versenkt, vielleicht sogar einen ganzen Monat oder noch länger: Der Geschichtslehrer erläutert die politische Situation im damaligen Deutschland und erzählt von Johann Joachim Winckelmann, dem Schustersohn aus Stendal, von dessen Antikenbegeisterung, der Karriere in Rom und seinem gewaltigen Einfluss auf seine Zeitgenossen; der Kunstlehrer zeigt, wie man mithilfe des Goldenen Schnitts und der Zentralperspektive einen griechischen Tempel konstruiert; der Deutschlehrer berichtet von Goethes Leben und tauscht sich mit dem Geschichtslehrer über das Faust-Motiv und seine Herkunft aus der Renaissance aus. Der Chemielehrer klärt dabei über die Medizin dieser Zeit und ihre Wunderheilkräuter und alchimistischen Versuche auf und macht dazu Experimente mit Eisen und Schwefel. Der Geografielehrer erläutert dazu das Vorkommen von Pyrit, von Schwefelkies. Der Philosophielehrer führt in die Fragen und Sorgen der Spätaufklärung ein; der Religionslehrer hilft, den Einfluss des schwedischen Mystikers und Theologen Emanuel Swedenborg im Faust zu entdecken – und die Schauspielbegeisterten proben im Anschluss an einer Szene aus dem Stück.
Etwas Ähnliches kann man sich bei einem längerfristigen Projekt unter dem Titel » Klimawandel « vorstellen, wo der Erdkundelehrer mit dem Physiklehrer die meteorologischen Verhältnisse aufzeigt und der Politiklehrer die Klima-Kriege in der sudanesischen Darfur-Region, während die Klasse Argumente und Ideen sammelt und austauscht, welche Lösungen es geben könnte – und zwar des Spaßes und der Übung halber auf Englisch. Auch die Spielregeln unseres Wirtschafts- und unseres Rechtssystems, zwei sträflich vernachlässigte Themen an unseren Schulen, lassen sich in Projekten darstellen und durchspielen. Eine Kultur wie die der Griechen oder Römer und die Entwicklung von China oder der arabischen Welt können ebenfalls von vielen Seiten in einem Projekt erkundet werden; und nicht zuletzt drängt sich geradezu das Thema Gesundheit und Ernährung auf, aus vielen Perspektiven beleuchtet zu werden. Neben solchen eher theoretischen Projekten sollte es welche geben, die praktisch veranlagten Kindern entgegenkommen, zum Beispiel Tischlern, einen Motor zu untersuchen oder sich im Schulgarten zu verwirklichen.
Ansätze dazu gibt es bereits an vielen Schulen, aber meist sind es eben nur Ansätze. So legt man die Naturwissenschaften zu Science zusammen, was eine gute Idee ist, aber man trennt immer noch zwischen Science und dem Rest. Viele Verbindungen, die erforderlich sind, um schwierige Sachverhalte zu verstehen – die Atomenergiepolitik der Bundesregierung, die Debatte um Bioethik und Biopolitik, der Komplex Ernährung und Nahrungsmittelproduktion –, lassen sich so nicht umfassend darstellen.
Kein wichtiger Schulstoff wurde je entdeckt oder erfunden, um Schulstoff zu werden; folglich sollte man ihn auch nicht so behandeln. Man mag sich nur das Gesicht von Pythagoras, Archimedes, Nietzsche, Goethe, Newton oder Darwin vorstellen, wenn sie miterleben müssten, wie heutige Schüler über ihr Wissen oder ihre Entdeckungen abgefragt
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