Anna, die Schule und der liebe Gott
einen unschätzbaren Vorteil. Eine Lehrerin, die einmal Lektorin in einem Verlag war und mit bedeutenden Autoren zusammengearbeitet hat, verfügt über andere Möglichkeiten, den Deutschunterricht mit Leben zu füllen, als ein Lehrer, der sein ganzes Leben lang nur in der Schule war – als Schüler, als Student, als Referendar und dann als Lehrer. Eigentlich ein ziemlich langweiliger Werdegang, sollte man denken. Wäre es nicht besser, der Chemielehrer hätte mal bei einem Unternehmen gearbeitet und geforscht? Kann er dann seinen Schülern nicht viel farbiger davon erzählen, wie es in einem angestrebten Berufsfeld zugeht? Ein ehemaliger Anwalt, der Jura in der Schule unterrichtet – ist das nicht genau der Richtige?
An diesen Vorstellungen ist viel Schönes. Aber leider sind sie ziemlich weltfremd. Wer, wenn er in seinem Beruf als Lektor, Chemiker oder Anwalt erfolgreich ist, geht ein paar Jahre später in die Schule? Selbst wenn man endlich die Verbeamtung abschaffte, die dem im Wege steht, selbst wenn man diejenigen beruhigte, die einwenden: » Das sind doch keine Pädagogen! « – so als ob jeder Lehrer einer wäre: Es fände sich bestimmt nicht genug einschlägiges Personal. Aus diesem Grund kann man angehende Lehrer auch nicht dazu verpflichten, sich mindestens zwei Jahre in der freien Wildbahn des Wirtschaftslebens zu bewähren. Viele würden gar nichts finden. Und die, die einen spannenden Job bekämen, kehrten von dort vielleicht gar nicht in die Schule zurück.
Was tun? Für das Problem gibt es, so denke ich, drei Lösungen. Die eine besteht darin, erfahrenen Praktikern nach ihrem Berufsleben die Chance zu geben, in der Schule zu unterrichten. Ich denke an den Physiker, der am CERN , dem europäischen Labor für Kernforschung, gearbeitet und Aufregendes erforscht hat. Als kinderloser Pensionär hockt er anschließend zu Hause herum, pflegt den Garten und geht seiner Frau auf die Nerven. Was für eine Bereicherung könnte so ein Mensch für die Schule sein? Wie viel Wissen hat er über die Berufs- und Forschungswelt eines Physikers, von dem ein konventionell ausgebildeter Physiklehrer nicht mal träumen kann? Ein pädagogischer Schnellkurs, und schon könnte er mit dem Physiklehrer gemeinsam ein spannendes Projekt in der Schule durchführen. Und was das Lob eines solchen Profis gegenüber manchem Lehrerlob wert ist, muss wohl nicht eigens erwähnt werden. Wollen wir mehr Physikstudenten in Deutschland, so brauchen wir mehr echte Physiker in der Schule. Das Gleiche lässt sich auch mit Chemikern, Informatikern und Biologen vorstellen. Von Schriftstellern im Deutschunterricht war schon die Rede. Ein Musiklehrer, der mal ein berühmtes Orchester dirigiert hat, wäre natürlich ein Traum, ein Galerist, der die Stars unter den zeitgenössischen Künstlern persönlich kennt und in den Unterricht einlädt, ebenfalls. Aber auch ein Tischlermeister mit pädagogischem Ethos, der mit den Schülern werkelt, wäre eine enorme Bereicherung. Was für eine tolle Schule wäre das, die solche wisdom teachers als Honorarkräfte in ihren Reihen hat …
Eine zweite Möglichkeit wäre es, solche Kenner ihres Metiers für einzelne Aktionen an der Schule zu begeistern. Ein wunderbares, ja wundervolles Beispiel dafür ist der Einsatz von Christiane Germain an einer » Problemschule « in einem der banlieues, der sozialen Brennpunkte von Paris. 126 Madame Germain ist eine der berühmtesten Galeristinnen der Stadt und eine einflussreiche Frau in der Kunst- und Designwelt. Von zwei Lehrerinnen animiert, startete sie an deren Schule ein Designprojekt. Die Voraussetzungen dafür waren die schlechtesten, die man sich vorstellen kann. 40 Prozent der Kinder hatten Eltern, die arbeitslos waren. Und viele fielen unter das Etikett » sozial verwahrlost « . Ein Projekt mit diesen Kindern? Und ausgerechnet – Design?
Zu ihrer Überraschung waren die achtjährigen Kinder begeistert, als die » elegante Dame « in ihre Klasse kam, um etwas mit ihnen zu machen. In kleinen Schritten erzählte Madame Germain ihren Schülern, was Design überhaupt ist. Die Kinder lernten, Design zu unterscheiden, fassten Objekte an und beurteilten sie mit zunehmender Kennerschaft. Madame Germain ging mit ihnen in völlig unbekannte Traumwelten wie Designmessen und Vernissagen und besuchte mit den Achtjährigen einen Architekten in seinem Privathaus. Die Kinder stellten Fragen, nahmen Prospekte mit, lernten die Namen von Designern, und je mehr sie wussten,
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