Anna, die Schule und der liebe Gott
Kinder wie möglich vorschulische Bildungsinstitutionen besuchen und so früh wie möglich gefördert werden. Und das geschieht am besten bei einer Kindergartenpflicht; alle anderen Lösungen, so die Erfahrung der letzten Jahre, greifen zu kurz.
Die integrative Schule
Deutschland ist sich weitgehend einig, dass jedes Kind eine echte Chance bekommen sollte. Und doch ist es bis heute nicht gelungen, unsere Schulen so umzubauen, dass dies tatsächlich geschieht. Nach dem vierten Schuljahr stellt unser konventionelles Schulsystem bereits die Weichen, und wer einmal auf der Hauptschule gelandet ist, hat es sehr schwer, sich dem Sog des Milieus zu entziehen. Nicht so in den skandinavischen Ländern, wo alle Kinder gemeinsam bis einschließlich des zehnten Schuljahrs lernen. Was Georg Picht sich erträumte, eine integrative Gesamtschule, wurde hier konsequent umgesetzt mit den bekannten Erfolgen. Die skandinavischen Schulsysteme gehören zu den besten und gerechtesten der Welt. Gleichzeitig waren die skandinavischen Länder in den letzten Jahrzehnten ökonomisch ausgesprochen erfolgreich. Geld, das in die Bildung investiert wird, spart Sozialkosten, die stattdessen in Forschung und Entwicklung gehen. Auch das Zufriedenheitsniveau dieser Länder im Hinblick auf Gesundheit, Freizeit und Glück ist in vieler Hinsicht vorbildlich und erstrebenswert.
Deutschland ist nicht Schweden, Finnland oder Dänemark. Und nicht alles lässt sich einfach kopieren oder übertragen. Unsere sozialen Ausgangsbedingungen sind definitiv andere. Gleichwohl ist nicht einsichtig, warum der Schritt zur integrativen Gesamtschule nicht auch bei uns endlich gelingen sollte. Je mehr Menschen in einem Land zur Mittelschicht gehören, umso besser ist es um dessen soziales und ökonomisches Klima bestellt. Ein Anwachsen der Schicht derjenigen, die gar keine Perspektive mehr haben, ist dagegen immer ein Indikator eines langfristigen sozialen und ökonomischen Abstiegs.
In dieser besorgniserregenden Lage müssen Schulen vor allem eines: Sie müssen integrativ statt selektiv sein. Dabei reicht es nicht aus, schlicht Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen, wie es in einigen Bundesländern geplant oder bereits gemacht wird. Man braucht nicht viel soziale Fantasie, um sich auszumalen, dass dies nur einen einzigen Effekt haben wird: die Abwertung der Realschule! Das dreigliedrige System lässt sich nicht dadurch retten, dass man seine schwächsten Glieder zusammenlegt. Wer den Überlegungen dieses Buches gefolgt ist, die Jahrgangsklassen nach dem vierten oder sechsten Schuljahr aufzulösen in individuelles Lernen und Projekte, dürfte seine Sorge verlieren, dass ein integratives Schulsystem für alle bis einschließlich des zehnten Schuljahrs den Schulerfolg der besseren Schüler ruiniert. Kein Kind wird dann noch in seiner Entwicklung dadurch behindert, dass es in seinem Lernhaus lernschwächere Kinder gibt. Damit aber fällt das einzige überzeugende Argument weg, warum man Kinder in verschiedene Schulformen sortieren sollte!
Geht es nach Georg Lind, Professor für Psychologie an der Universität Konstanz, dann ist die gegenwärtige » Trennung der Kinder in zig Schulformen « nicht mehr zu verantworten. Diese » Systemprobleme « können » nicht durch isolierte Reformmaßnahmen gelöst werden … Anders gesagt: Eine Gemeinschaftsschule ist keine ›Gemeinschafts‹-Schule, wenn sie nur für ein paar Prozent der Kinder eingerichtet wird. Sie muss für die ganze Gemeinschaft sein, also für alle Kinder. Wenn die Reform der Schule nicht auf relativ wenige Schulen begrenzt bleiben soll und wenn sie nicht mehr als eine symbolische Reform sein soll, muss dafür ein in sich stimmiges Konzept für das gesamte Schulsystem in Deutschland und am Ende auch für Europa erarbeitet werden – wie das vor Jahren in Schweden und Finnland geschehen ist. « 131
Wenn Schüler auf genannte Weise gemeinsam lernen, sind Lehrer nicht mehr gezwungen, früh zu selektieren. Einen starken Rückenwind erhält das integrative System auch aus der Intelligenzforschung, weil sich » ein zwei- oder dreigliedriges Schulsystem nicht mit der Normalverteilung der Intelligenz rechtfertigen lässt « . 132 So gibt es zahlreiche Kinder auf Haupt- und Realschulen, deren gemessener IQ höher ist als bei vielen Gymnasiasten. Von daher erscheint es mir sinnvoll, die einzige echte Unterscheidung erst nach der zehnten Klasse vorzunehmen: Wer macht Abitur und erwirbt damit einen Studienzugang,
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