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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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und wer macht eine Lehre? Dabei sollte die Schule die Lehre begleiten (statt einer gesonderten Berufsschule). Und wer sich dabei besonders anstrengt, sollte sich auch beim berufsbegleitenden Lernen eine Zugangsberechtigung zum Studium erarbeiten können – sodass der Abschluss von Lehre und Berufsschule plus Zusatzqualifikationen dem Abitur gleichgestellt werden kann.
    Wichtig für dieses Modell ist die Definition von Bildungsstandards für den Abschluss des zehnten Schuljahrs und für das Abitur. Gemäß dem individuellen Lernen und der Projektarbeit werden dabei zwar die Ziele normiert, aber nicht die Wege. Die Kinder und Jugendlichen können ihre Projekte aus einem Angebot frei wählen, wobei ein Pflichtteil in bestimmten Bereichen abgedeckt werden muss. Lernschwächere Kinder werden dabei oft andere Projekte bevorzugen als lernstarke, und praktisch veranlagte Kinder andere als theorieinteressierte. Doch wie auch immer der Bildungsgang verläuft – nach der zehnten Klasse muss jeder Jugendliche sich in Deutsch mündlich und schriftlich gut ausdrücken können und Grundkenntnisse in wichtigen Fremdsprachen haben. Er sollte die historische, politische und ökonomische Dimension seines Lebens verstehen. Er muss ein Grundverständnis von Mathematik und den Naturwissenschaften haben, das ihn befähigt, exakt und abstrakt zu denken. Und der Jugendliche sollte an sich selbst erfahren haben, was es bedeutet, körperlich und geistig kreativ zu sein. Mit diesen Grundkenntnissen und Fähigkeiten sollte er in der Lage sein, selbstständig und selbstbewusst den Herausforderungen zu begegnen, die später im Leben an ihn herantreten – welche Herausforderungen auch immer dies sein werden.
    Nun gehört die Definition von Bildungsstandards seit PISA zu den Aufgaben, denen die Kultusministerien in umfangreichen Dossiers gern nachgekommen sind. Doch einen Standard zu definieren und das Erreichen dieses Standards durch jeden Schüler als Pflicht oder Bringschuld der Schulen festzulegen, sind zwei verschiedene Dinge. Wer heute in Deutschland unter dem Standard bleibt, nötigt – anders als etwa in Dänemark – keine Schule dazu, sich zu rechtfertigen, warum sie versagt hat. Die Schulen der Zukunft dagegen sollten sich für ihre Schüler verantwortlich fühlen und jedem ein Bildungsminimum garantieren, auch dem » Risikoschüler « mit Migrationshintergrund. Schafft es der Schüler nicht, den Standard nach der zehnten Klasse zu erreichen, sollte es die Pflicht der Schule sein, den Jugendlichen in einer Berufsförderschule neben der Lehre gezielt zu fordern und zu fördern: in kleinen Klassen, unter Mithilfe von Psychologen und Sozialarbeitern und mit den besten in Deutschland zur Verfügung stehenden Lehrern.
    Das achte Schuljahr
    Im Kapitel über das Lernen war davon die Rede, dass pubertierende Kinder eigentlich nicht in die Schule gehören. Ihre Gehirne stehen in diesem Alter unter Dauerstress. Und die Jugendlichen sind so sehr mit sich selbst, ihrem Aussehen, ihren wahrgenommenen Defiziten, ihren Altersgenossen, ihren geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Freundschaften beschäftigt, dass sie dem Unterricht häufig kaum etwas abgewinnen können. Dabei wollen sie nicht weniger lernen als zuvor. Doch was sie jetzt am brennendsten interessiert, ist (von Ausnahmen abgesehen) nicht Geometrie, Grammatik oder Geschichte – sondern es sind sie selbst und ihre soziale Rolle.
    In solcher Lage Kinder in ganz normalen Schulklassen in ganz normalen Schulgebäuden zu unterrichten, geht eigentlich nicht an. Jeder Lehrer, der Kinder im entsprechenden Alter etwas beibringen will, kennt das Problem von abwesenden Anwesenden, mangelnder Konzentrationsfähigkeit, sprunghaftem Verhalten, Aggressionen oder offen zur Schau gestellter Lustlosigkeit. Doch was kann man dagegen tun? Da man die Pubertät nicht abschaffen kann, gibt es im Grunde nur eine Lösung: Man muss den Rahmen und die Bedingungen des Unterrichts ändern.
    Schon die Reformpädagogen zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich darüber Gedanken gemacht, von Montessori bis Kerschensteiner. Im Anschluss daran versuchte sich die Landerziehungsheimbewegung an erlebnispädagogischen Projekten, in denen Kinder und Jugendliche durch Erfahrung in der Natur lernen sollten, was man ihnen theoretisch nur schlecht vermitteln konnte. Doch die Idee geriet nach und nach wieder in Vergessenheit; zu inkompatibel war sie mit dem Tayloristischen Schulsystem. Im Jahr 2006 griff Hartmut von Hentig, der

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