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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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der Schule geschieht und nicht etwa bei Hausaufgaben oder im außerschulischen Nachhilfeunterricht. Solche Mittel der sozialen Selektion müssen unterbunden werden, um Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Für die Schüler bedeutet eine verbindliche Schulzeit bis 16 Uhr gegenüber einer Halbtagsschule schon deswegen keine längere Lernbelastung, weil die Hausaufgaben wegfallen beziehungsweise als Schulaufgaben in der Schule erledigt werden. Ein Kind, das nachmittags aus der Schule kommt, hat tatsächlich » frei « . Und das Gleiche gilt für die Lehrer.
    Die Schule der Zukunft kümmert sich vollständig um die Lernbiografie, statt sie, wie bisher, zu einem erheblichen Teil der Willkür, dem Vermögen und dem Unvermögen von Elternhäusern zu überlassen. Und sie ist, im Gegensatz zur bestehenden Praxis von deutschen Ganztagsschulen, auch für das ganztägige Lernen verantwortlich, vormittags wie nachmittags. Was jetzt noch hoch problematisch in Lernen und Betreuen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Finanzierungen zerfällt, sollte in Zukunft aus einem Guss geschmiedet sein.
    Die organisatorischen Strukturen einer solchen Zukunftsschule sehen demnach wie folgt aus: ein flächendeckendes Kita-Angebot für alle Kinder in Deutschland vom zweiten Lebensjahr an. Eine Kindergartenpflicht vom dritten Lebensjahr an. Eine gemeinsame Schule für alle bis einschließlich des zehnten Schuljahrs. Eine Auflösung der Jahrgangsklassen nach dem vierten oder sechsten Schuljahr. Ein Abenteuerprojektjahr im achten Schuljahr. Eine Trennung nach dem zehnten Schuljahr in die gymnasiale Oberstufe oder in eine Lehre mit weiterer schulischer Begleitung. Und eine eigene Berufsförderschule mit Lehre für diejenigen, die den Anforderungen des zehnten Schuljahres nicht gerecht wurden, mit dem Ziel, den gleichen Abschluss auf diese Weise zu schaffen. Jedes dieser Elemente möchte ich im Folgenden näher vorstellen und begründen.
    Kindergartenpflicht
    Warum müssen Kinder in Deutschland überhaupt in die Schule gehen? Gibt es keine andere Lösung? Freiheitlicher, individueller, ohne staatlichen Zwang? Reicht es nicht aus, wenn man die Schulpflicht durch eine » Bildungspflicht « ersetzt? Für diese Idee kämpft seit 2006 das » Netzwerk Bildungsfreiheit « . Wichtigstes Argument ist Artikel 26 (3) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Danach haben Eltern » das vorrangige Recht, die Art der Bildung und Erziehung, die ihre Kinder erhalten sollen, zu wählen « . Von einer Schulpflicht ist hier nicht die Rede, nur von der Verpflichtung der Eltern, für die Bildung ihrer Kinder zu sorgen. Kann man das nicht auch ohne Schulbesuch?
    Vielleicht sollte ich meinen Sohn zu Hause bilden? So wie der englische Philosoph John Stuart Mill im 19. Jahrhundert von seinem Vater nach allen Regeln der Kunst zu einem Genie herangezüchtet wurde. Was die Schule kann, können wir beim intensiven Privat- und Einzelunterricht allemal besser. Haben Organisationen wie der » Bundesverband Natürlich Lernen! e. V. « , die » Stiftung Netzwerk Hochbegabung « , das » Europäische Forum für Freiheit im Bildungswesen « , der Verein » Schulbildung in Familieninitiative e. V. « und so weiter darin recht? Und sollte man dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger zustimmen, der Anfang der achtziger Jahre ein » Plädoyer für den Hauslehrer « und gegen die » Fürsorgeknäste « unserer Schulen hielt? 130
    Nun muss nicht jeder, der sich für einen guten Hauslehrer hält, dies auch sein, wenn er völlig unkontrolliert sein Curriculum an seinen Kindern durchexerziert. Aber das ist gewiss nur ein Nebenaspekt. Der tatsächliche Grund, warum die Bildungspflicht statt der Schulpflicht so abwegig ist, stellt sich als ein anderer dar: Sie ist in jeder Hinsicht asozial. Man erinnere sich an Humboldt, der nicht nur bilden, sondern Staatsbürger bilden wollte. Staatsbürger aber wird man nicht durch theoretische Einsichten, sondern durch praktiziertes Zusammenleben. Die Aufgabe der Schule ist nicht nur, Wissen zu vermitteln und Zeugnisse mit Stempeln auszuteilen. Sie soll auch das soziale Miteinander der Kinder und Jugendlichen fördern und ihnen helfen, es zu trainieren. Aus der Sicht der meisten Kinder ist die Schule primär noch nicht einmal Lernort, sondern der Ort, an dem sie ihre Freunde treffen, sich austauschen, sich verlieben, ihr Selbstbewusstsein erproben usw. Private Lernzirkel mit mehreren Kindern sind dazu keine Alternative – sie repräsentieren

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