Anna, die Schule und der liebe Gott
nur ein stark eingeschränktes Milieu. Man sollte sich einmal überlegen, was wohl aus diesem Land wird, wenn es jedem anheimgestellt wird, Bildung komplett privat zu vermitteln. In den Villenvororten unterrichten nun gut bezahlte Professoren die Kinder, Bildungsbürger gründen Elitezirkel mit kritisch beäugten Starpädagogen, und der Rest ist der Rest. Einübung in demokratische Staatsbürgerlichkeit sieht anders aus. Wenn nur noch die in die Schule gehen, die sich keinen Privatunterricht leisten können, werden alle Schulen über kurz oder lang zu sozialen Brennpunkten. Das Niveau sinkt, und ein staatlicher Schulabschluss verliert seinen Wert. Gute Universitäten nehmen nur noch Privatschüler. Die Mittelschicht legt sich krumm, um den Hauslehrer zu bezahlen. Und radikale Islamisten freuen sich, dass sie ihre Kinder ungestört im eigenen Geiste komplett zu Hause erziehen dürfen. Integration, Solidarität und Gemeinsinn, die Pfeiler unseres demokratischen Staats, zerbröckeln – und auf den Straßen wird es ungemütlich. Wie kann man so etwas im Ernst wollen?
In kaum einem anderen europäischen Land ist das Drängen darauf, den Staat in der Bildung außen vor zu lassen, so stark wie in Deutschland. Grund dafür ist das merkwürdig paradoxe Familienbild in unserem Land. Weil wir in Deutschland traditionell Bildung primär für eine Sache von Mama und Papa halten, ist unser vorschulisches Betreuungs- und Erziehungssystems deutlich schlechter entwickelt als in den meisten anderen OECD -Staaten. Gerade weil wir die Institution Familie als eigentlichen Ort der Erziehung so lieben, ist unser Betreuungsangebot so familienfeindlich! Wir schätzen nämlich nicht die Familie mit zwei erwerbstätigen Eltern oder gar mit Alleinerziehenden – wir schätzen die gute alte Fünfziger-Jahre-Familie und beschwören sie als » eigentliche « Familie. Allerdings werden diese » eigentlichen « Familien immer seltener. Und wer nicht dazugehört, bekommt die Konsequenz dieses kitschig-nostalgischen Familienwahns zu spüren: ein hoch defizitäres Kita-System.
In Deutschland ist der Besuch eines Kindergartens keine Pflicht. Die » Schulpflicht « beginnt bei uns damit vergleichsweise spät. Gut begründbar ist das nicht. Fängt der Bildungsgang eines Menschen erst mit sechs Jahren an? Wenn wir die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie ernst nehmen, so werden in den ersten Lebensjahren kognitiv und emotional ganz entscheidende Weichen für das Leben gestellt, die die Ungleichheit im Lernverhalten frühzeitig festlegen. Und was durch das Elternhaus an Anregung, Bindung und Entwicklungsförderung versäumt wird, stellt unsere Schulen später vor die größten Probleme.
Wenn der Besuch des Kindergartens keine Pflicht ist, so bleiben nicht nur Kinder zu Hause, deren Eltern viel Zeit haben, sich um sie zu kümmern. Es gehen auch die Kinder nicht in den Kindergarten, deren Eltern sich darum keine Gedanken machen oder die ihre Kinder aus kulturellen oder religiösen Gründen für sich behalten und abschotten wollen. Dass sie ihren Kindern damit keinen Gefallen tun, ist auch klar. Ein Kind von der öffentlichen Gemeinschaft fernzuhalten, in der es später lange leben muss, schadet sowohl dem Kind als auch der Gemeinschaft. So gehen in Deutschland vor allem jene Kinder nicht in den Kindergarten, die den Besuch am nötigsten haben, zum Beispiel um Deutsch zu lernen oder sich sozial inspirieren und animieren zu lassen.
Gegen dieses Problem hilft (allen juristischen Bedenken zum Trotz) wohl nur eine allgemeine Kindergartenpflicht vom dritten Lebensjahr an. Auch wenn man Eltern verstehen kann, die ihre Kinder in diesem Alter gern bei sich zu Hause behalten möchten – diesen nicht allzu hohen Preis müssen sie für das Allgemeinwohl und die Zukunft des Landes zahlen. Im Übrigen steht zu erwarten, dass sich der Widerstand gegen die Kindergartenpflicht schnell überleben wird. Ist sie erst einmal ein paar Jahre eingeführt, wird sie von fast allen als völlig selbstverständlich angesehen werden.
Daneben sollte man das Kita-Angebot so ausbauen, dass für alle Kinder vom zweiten Lebensjahr an bei Bedarf Plätze bereitstehen; ein Zustand, von dem Deutschland noch immer erschreckend weit entfernt ist, obwohl es finanziell ohne allzu große Schwierigkeiten möglich wäre. Alle im Bundestag vertretenen Parteien wünschen sich einen Bildungserfolg, bei dem möglichst wenige auf der Strecke bleiben. Aber er ist nur dann erreichbar, wenn so viele
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