Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
runzelt die Stirn. »Was ist eigentlich der Plural von Oktopus? Oktopusse?«
»Streng wissenschaftlich müsste es eigentlich ›Oktopoden‹ heißen«, erwidere ich. Ich drehe das Lehrbuch zu mir herum. Obwohl ich keine Lust habe, will ich es möglichst schnell hinter mich bringen und dann mit Thomas zusammen die Zeitungen durchgehen und Informationen über unser ermordetes Mädchen suchen. Von meinem Platz aus kann ich ihn am Computer beobachten. Er hockt vor dem Bildschirm und klickt fieberhaft mit der Maus, dann notiert er sich etwas auf einem Zettel und steht auf.
»Cas«, sagt Carmel. Ich entnehme ihrem Tonfall, dass sie schon eine ganze Weile mit mir geredet hat. Ich setze mein allerschönstes charmantes Lächeln auf.
»Hm?«
»Nimmst du den Oktopus oder den Einsiedlerkrebs?«
»Den Oktopus«, sage ich. »Bitte ganz leicht frittiert, mit etwas Olivenöl und Zitrone.«
Carmel schneidet eine Grimasse. »Das ist widerlich.«
»Nein, ist es nicht. Die habe ich mit meinem Dad oft in Griechenland gegessen.«
»Du warst in Griechenland?«
»Ja«, antworte ich, während ich abwesend die Wirbellosen durchblättere. »Wir haben ein paar Monate
dort gelebt, als ich vier war. Ich kann mich aber kaum noch daran erinnern.«
»Ist dein Vater viel auf Reisen? Beruflich oder so?«
»Ja, früher.«
»Macht er das jetzt nicht mehr?«
»Mein Dad ist tot.« Ich erzähle es nicht gern. Ich weiß nie genau, wie meine Stimme klingt, wenn ich es ausspreche, und ich hasse den betroffenen Blick der Menschen, wenn sie nicht wissen, wie sie antworten sollen. Also weiche ich Carmels Blick aus und lese etwas über verschiedene Gattungen nach. Sie sagt, es tue ihr leid, und will wissen, wie es passiert ist. Ich erkläre ihr, dass er ermordet wurde, und sie keucht erschrocken.
Es sind genau die richtigen Reaktionen. Ihr Versuch, Mitgefühl zu zeigen, sollte mich berühren. Es ist nicht ihre Schuld, dass ich damit nichts anfangen kann. Ich habe diese Mienen und das Keuchen einfach schon zu oft gehört und gesehen. Und überhaupt macht mich eigentlich alles wütend, was mit der Ermordung meines Vaters zu tun hat.
Da fällt mir ein, dass Anna mein letzter Übungsjob ist. Sie ist unglaublich stark und so ziemlich das Schwierigste, was ich mir bisher vorgenommen habe. Wenn ich sie besiege, bin ich bereit. Dann bin ich bereit, meinen Vater zu rächen.
Ich halte inne, als ich darüber nachdenke. Bisher war die Vorstellung, nach Baton Rouge zurückzukehren und dieses Haus aufzusuchen, nur eine abstrakte Idee. Ein Plan für die ferne Zukunft. Wahrscheinlich habe
ich es trotz meiner Voodoo-Recherchen im Grunde nur hinausgezögert. Besonders ertragreich waren meine Nachforschungen sowieso nicht. Ich weiß bis heute nicht, was meinen Dad umgebracht hat, und ob ich die Geister heraufbeschwören kann, wenn ich allein dort bin. Es kommt nicht infrage, Mom mitzunehmen. Nicht nachdem ich jahrelang Bücher versteckt und diskret Webseiten weggeklickt habe, sobald sie den Raum betreten hat. Sie würde mich lebenslang einsperren, wenn sie wüsste, worüber ich nachdenke.
Jemand tippt mir auf die Schulter und reißt mich aus der Versenkung. Thomas legt eine alte Zeitung auf den Tisch. Sie ist ganz spröde und vergilbt, es wundert mich, dass er sie überhaupt bekommen hat.
»Das hier habe ich gefunden.« Und da ist sie, auf der Titelseite, unter der Überschrift »Mädchen ermordet aufgefunden«.
Carmel steht auf, um es besser sehen zu können. »Ist sie das?«
»Ja, sie ist es«, platzt Thomas aufgeregt heraus. »Es gibt nicht viele andere Artikel. Die Polizei wusste nicht weiter und hat kaum jemanden befragt.« In den Händen hält er eine zweite Zeitung, die er jetzt durchblättert. »Hier ist nur noch ihr Nachruf abgedruckt: Anna Korlov, geliebte Tochter von Malvina, wurde am vergangenen Donnerstag auf dem Kivikoski-Friedhof zur letzten Ruhe gebettet.«
»Ich dachte, du recherchierst für eine Hausarbeit, Thomas«, bemerkt Carmel.
Er stottert und will sich herausreden. Mir ist völlig
egal, was die beiden treiben. Ich starre das Foto an, das Bild des lebenden Mädchens mit der bleichen Haut und dem langen, schwarzen Haar. Sie lächelt nicht, aber ihre Augen strahlen und blicken neugierig und aufgeregt.
»Es ist eine Schande«, seufzt Carmel. »Sie war wirklich hübsch.« Sie berührt Annas Gesicht, doch ich schiebe ihre Hand weg. Etwas geschieht mit mir, ich kann es selbst nicht richtig erklären. Das Mädchen, das ich betrachte, ist ein
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