Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
wenigstens die Schuldgefühle, die uns allen deutlich ins Gesicht geschrieben stehen. »Wird er denn wirklich vermisst?«, fragt Carmel mit schriller Stimme. »Ich dachte … Ich hatte gehofft, es sei nur ein Gerücht.«
Sie hat die Situation gerettet. Die Cops werden deutlich freundlicher, als sie sich so aufgelöst zeigt. Roebuck erzählt uns, Will und Chase hätten sie zu der Stelle geführt, wo sie Mike abgesetzt haben, und man habe Suchtrupps losgeschickt. Wir fragen, ob wir helfen können, doch er winkt ab und meint, so etwas solle man den Profis überlassen. In ein paar Stunden werde Mikes Gesicht auf allen Fernsehkanälen zu sehen sein. Die ganze Stadt werde mit Taschenlampen und Regenzeug im Wald unterwegs sein und nach Spuren suchen. Irgendwie weiß ich aber, dass es dazu nicht kommen wird. Dies ist alles, was sie für Mike
Andover tun werden. Eine halbherzige Suchaktion und ein paar Cops, die ein paar Fragen stellen. Keine Ahnung, woher ich es weiß. Vielleicht liegt es an ihrem schläfrigen Gesichtsausdruck, als könnten sie nicht erwarten, dass es endlich vorbei ist, damit sie endlich wieder etwas Warmes essen und die Füße hochlegen können. Ich frage mich, ob sie spüren, dass hier mehr passiert ist, als sie bewältigen können, und ob ihnen eine Geheimfrequenz leise summend erklärt, dass sie Mikes Tod auf sich beruhen lassen sollen, weil etwas völlig Verrücktes und Unerklärliches geschehen ist.
Nach ein paar Minuten verabschieden sich Roebuck und Davis von uns, und wir sinken erleichtert auf die Stühle.
»Das war …« Thomas lässt den Satz unvollendet.
Carmel bekommt einen Anruf auf dem Handy. Als sie sich umdreht, um zu reden, höre ich sie flüstern: »Ich weiß es nicht«, und »Ich bin sicher, dass sie ihn finden.« Nach dem Gespräch ist sie sichtlich betroffen.
»Alles klar?«, frage ich.
Teilnahmslos zeigt sie mir das Handy. »Es war Nat«, erklärt sie. »Sie will mich wohl trösten, aber ich bin nicht in der Stimmung für einen Kinoabend mit den Mädchen.«
»Können wir etwas für dich tun?«, fragt Thomas sanft. Carmel sieht ihre Papiere durch.
»Ehrlich gesagt will ich einfach nur diese Hausarbeit erledigen.« Ich nicke. Wir sollten uns etwas Zeit für ganz normale Dinge nehmen, die Hausaufgaben machen, für die Schule lernen und versuchen, für
die Bio-Arbeit eine gute Note zu bekommen. Der Zeitungsausschnitt in meiner Tasche wiegt eine Tonne. Annas sechzig Jahre altes Foto starrt mich an, und aus irgendeinem Grund will ich sie beschützen und verhindern, dass sie das wird, was sie schon längst ist.
Ich glaube, demnächst wird nicht mehr viel Zeit für Normalität sein.
In Schweiß gebadet wache ich auf. Ich habe von irgendetwas geträumt, das sich über mich gebeugt hat. Von einem Wesen mit krummen Zähnen und Krallenfingern. Und einem Atem, der roch, als hätte es schon jahrzehntelang Menschen gefressen, ohne sich zwischendurch die Zähne zu putzen. Das Herz rast in meiner Brust. Ich taste unter dem Kopfkissen nach dem Athame meines Vaters und könnte einen Moment lang schwören, ein Kreuz zu berühren, um das sich eine Schlange aus Haaren windet. Dann halte ich den Griff des Messers fest, das beruhigend und sicher in der Lederscheide steckt. Diese verdammten Albträume.
Allmählich beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Als mein Blick auf den Boden fällt, bemerke ich Tybalt, der mich mit aufgeplustertem Schwanz beobachtet. Ich frage mich, ob er auf meiner Brust geschlafen hat, und ob ich ihn beim Auffahren hinuntergeworfen habe. Ich kann mich nicht erinnern, hoffe aber, dass es so war, weil das lustig wäre.
Ich denke daran, mich wieder hinzulegen, lasse es
aber bleiben. Alle meine Muskeln fühlen sich verkrampft an. Es ist unangenehm, und obwohl ich müde bin, würde ich jetzt am liebsten Sport treiben – Kugelstoßen oder Hürdenlaufen. Draußen ist es offenbar windig, denn das alte Haus knarrt und stöhnt und die Bodenbretter verschieben sich wie Dominosteine. Es klingt, als käme jemand mit schnellen Schritten zu mir.
Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigt 3:47 Uhr. Im ersten Augenblick weiß ich nicht einmal, welcher Tag heute ist. Samstag. Wenigstens muss ich morgen früh nicht in die Schule. Irgendwie gehen die Nächte fast nahtlos ineinander über. Seit wir hier angekommen sind, habe ich höchstens drei Nächte wirklich gut geschlafen.
Spontan stehe ich auf und ziehe Jeans und ein T-Shirt an, dann stecke ich den Athame in die Gesäßtasche und steige die
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