Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Treppe hinunter. Unten halte ich kurz an, um meine Schuhe anzuziehen und den Autoschlüssel meiner Mutter vom Couchtisch zu nehmen. Kurz danach fahre ich im Licht des zunehmenden Mondes durch die dunklen Straßen. Ich weiß genau, wohin ich will, auch wenn ich mich nicht entsinnen kann, mich bewusst dazu entschlossen zu haben.
Ich parke am Ende von Annas verwilderter Zufahrt und steige aus. Dabei fühle ich mich fast wie ein Schlafwandler. Die Anspannung des Albtraums weicht nicht aus meinen Gliedern. Ich höre nicht einmal meine eigenen Schritte auf der baufälligen Verandatreppe
und spüre kaum, wie sich meine Finger um den Türknauf legen. Ich trete ein und stürze.
Der Eingangsbereich ist verschwunden. Ich falle drei Meter tief und lande mit dem Gesicht voran in altem, kaltem Staub. Nach ein paar tiefen Atemzügen sammle ich mich wieder und ziehe unwillkürlich die Beine an. Dabei denke ich nichts anderes als: Verdammt, was war das? Als mein Gehirn den Betrieb wieder aufnimmt, warte ich halb geduckt und hebe, auf alles gefasst, die Arme an. Ich kann von Glück reden, dass meine Gliedmaßen noch funktionieren, aber wo zum Teufel bin ich gelandet? Mein Körper fühlt sich an, als ginge ihm gleich das Adrenalin aus. Wo ich auch bin, es ist dunkel hier und stinkt. Ich versuche, möglichst flach zu atmen, um nicht in Panik zu geraten und nicht zu tief zu inhalieren. Es riecht nach Feuchtigkeit und Verwesung. Hier unten sind viele Menschen gestorben oder nach dem Tod eingelagert worden.
Als mir dieser Gedanke kommt, greife ich sofort nach dem Dolch, nach meinem bewährten Beschützer, mit dem ich Kehlen durchschneiden kann, und sehe mich um. Das unwirkliche graue Licht des Hauses erkenne ich wieder. Es dringt durch die Bodenbretter nach unten. Da sich meine Augen inzwischen umgestellt haben, kann ich jetzt Wände und Boden erkennen, die teils aus Lehm und teils aus nacktem Stein bestehen. Ich halte mir kurz vor Augen, wie ich die Vordertreppe hinaufgestiegen und durch die Tür getreten bin. Wie bin ich nur im Keller gelandet?
»Anna?«, rufe ich leise. Der Boden unter mir ruckt. Ich halte mich an einer Wand fest, aber was ich dort spüre, ist kein Lehm. Es gibt nach. Es ist feucht. Es atmet.
Der Leichnam von Mike Andover steckt halb in der Wand, und ich habe ihm die Hand auf den Bauch gelegt. Mikes Augen sind geschlossen, als schliefe er. Die Haut ist dunkler und schlaffer als zu Lebzeiten. Er verwest, und die Art und Weise, wie er in der Wand steckt, sagt mir, dass das Haus ihn langsam in sich aufnimmt. Es verdaut ihn.
Ich ziehe mich ein paar Schritte zurück. Es wäre nicht nett, wenn er mir jetzt die Einzelheiten erklären würde.
Ein leises Schlurfen erregt meine Aufmerksamkeit. Ich drehe mich um und sehe eine Gestalt auf mich zukommen. Sie schwankt und taumelt wie ein Betrunkener. Der Schock, dass ich nicht allein bin, tritt vorübergehend in den Hintergrund, weil mein Magen revoltiert. Es ist ein Mann, der nach Urin und Schnaps stinkt. Er trägt schmutzige Sachen, einen alten, ausgefransten Trenchcoat und Hosen mit Löchern an den Knien. Als ich ihm ausweichen will, bekommt er Angst. Sein Hals dreht sich wie der Schraubverschluss einer Getränkeflasche. Seine Wirbelsäule knirscht, und er bricht vor mir zusammen.
Ich frage mich, ob ich überhaupt wach bin. Dann höre ich aus irgendeinem Grund die Stimme meines Vaters im Kopf.
»Hab keine Angst vor der Dunkelheit, Cas. Aber
lass dir andererseits nicht einreden, alles, was in der Dunkelheit existiert, sei auch bei Licht zu erkennen. Ganz so einfach ist das nicht.«
Danke, Dad. Eine der vielen gruseligen Weisheiten, die ich von dir gelernt habe.
Natürlich hatte er recht. Jedenfalls, was den letzten Teil angeht. Mein Herz schlägt so heftig, dass ich das Pochen meiner Halsschlagader spüre. Dann spricht Anna zu mir.
»Siehst du, was ich mache?« Bevor ich antworten kann, umgibt sie mich mit Leichen. Es sind mehr, als ich zählen kann. Sie sind auf dem Boden wie Abfall verstreut, stapeln sich bis zur Decke. Arme und Beine sind zu einem grotesken Zopf verflochten. Der Gestank ist entsetzlich. Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine Bewegung, doch als ich genauer hinsehe, wird mir klar, dass es nur die Insekten sind, die sich von den Toten ernähren. Sie krabbeln unter der Haut und heben sie hier und dort an, als flatterte sie in einem Wind, den es nicht gibt. Nur die Augen bewegen sich tatsächlich noch in den toten Körpern. Verschleimt und trüb drehen
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