Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
nicht töten kannst , wäre der Aufwand doch ganz umsonst.«
Ich lache. »Mach dir nicht so große Hoffnungen.«
»Warum? Ich weiß, dass du mir noch lange nicht alles gezeigt hast, was du kannst, Cas. Ich spüre die Spannung, weil du die Klinge zurückhältst. Wie oft
hast du es schon getan? Wie oft hast du gekämpft und gesiegt?«
»Zweiundzwanzig Mal in den letzten drei Jahren«, sage ich voller Stolz. Das ist mehr, als mein Vater in einer vergleichbaren Zeitspanne je geschafft hat. In dieser Hinsicht bin ich wohl das, was man einen Streber nennt. Ich wollte besser sein als er. Schneller und härter. Um nicht so zu enden wie er.
Ohne den Dolch bin ich nichts Besonderes, einfach nur ein Siebzehnjähriger von durchschnittlichem Körperbau, eher etwas zu schmal geraten. Aber wenn ich den Athame in die Hand nehme, könnte man glauben, ich trüge einen dreifachen schwarzen Gürtel oder so. Dann sind meine Bewegungen zielsicher, stark und schnell. Sie liegt richtig damit, dass sie nicht alles gesehen hat, was ich kann, auch wenn ich nicht zu ergründen vermag, woher sie es weiß.
»Ich will dir nicht wehtun, Anna. Das weißt du doch, oder? Es ist nichts Persönliches.«
»Genau wie ich all die Leute, die im Keller verwesen, nicht töten wollte.« Sie lächelt betrübt.
Also waren es reale Tote. »Was ist mit dir passiert?«, frage ich. »Was zwingt dich dazu?«
»Das geht dich nichts an«, erwidert sie.
»Wenn du es mir sagst …« Ich spreche nicht weiter. Wenn sie es mir sagt, kann ich sie durchschauen, und sobald ich sie durchschaut habe, kann ich sie töten.
Die Sache wird kompliziert. Das Mädchen, das Fragen stellt, und das sprachlose schwarze Monster sind ein und dieselbe Person. Es ist nicht fair. Trenne ich die
beiden voneinander, wenn ich ihr das Messer in den Leib jage? Wird Anna an einen Ort und das Wesen an einen anderen Ort gelangen? Oder wird Anna in die Leere mitgerissen, in der dieser andere Teil verschwindet?
Ich dachte, ich hätte solche Gedanken schon vor langer Zeit aus meinem Kopf verbannt. Mein Vater hat immer gesagt, es sei nicht unsere Aufgabe zu urteilen, wir seien nur das Instrument. Unsere Aufgabe sei es, die Toten aus dem Reich der Lebenden zu vertreiben. Dabei hat er völlig überzeugt gewirkt. Was ist, wenn mir diese Gewissheit fehlt?
Langsam hebe ich die Hand, um ihr kaltes Gesicht zu berühren und ihr mit den Fingern über die Wange zu streichen. Ich bin überrascht, dass die Haut weich ist und sich nicht wie Marmor anfühlt. Sie steht wie gelähmt da, dann hebt sie ihre Hand und legt sie auf meine. Die Verzauberung ist so stark, dass wir beide reglos stehen bleiben, als Carmel die Tür aufreißt, und uns erst rühren, als sie mich ruft.
»Cas? Was tust du da?«
»Carmel«, platze ich heraus. Sie steht in der offenen Tür, die Hand auf den Türknauf gelegt, und scheint zu zittern. Sie macht einen zögernden Schritt in den Raum hinein.
»Carmel, beweg dich nicht«, sage ich, aber sie starrt Anna an, die vor mir zurückweicht, eine Grimasse schneidet und sich den Kopf hält.
»Ist sie das? Ist sie das Wesen, das Mike umgebracht hat?«
Das dumme Mädchen kommt weiter ins Haus hinein. Anna zieht sich so schnell zurück, wie es ihr auf unsicheren Füßen möglich ist. Ihre Augen sind wieder schwarz.
»Anna, tu es nicht, sie weiß nichts«, sage ich. Es ist zu spät. Was es auch ist, das es Anna erlaubt, mich zu verschonen, es bezieht sich offenbar ausschließlich auf meine Person. In einem Wirbel aus schwarzem Haar und rotem Blut, bleicher Haut und gefletschten Zähnen verschwindet sie. Überdeutlich hören wir in der Stille, die sich daraufhin ausbreitet, das Tropfen ihres Kleids.
Dann springt sie los und will offenbar Carmel die Hände in den Bauch stoßen.
Ich werfe mich dazwischen und denke in dem Moment, als ich mit dieser gewaltigen Kraft zusammenpralle, was ich doch für ein Idiot bin. Doch ich schaffe es, sie abzudrängen, und Carmel weicht zur Seite aus. Leider in die falsche Richtung. Sie ist jetzt noch weiter von der Tür entfernt als zuvor. Manche Leute sind wohl nur klug, wenn sie ein Buch in der Hand haben. Carmel ist eine zahme Hauskatze, die Anna zum Frühstück verspeist, wenn ich nichts unternehme. Anna duckt sich jetzt, das Blut tropft von ihrem Kleid auf den Boden, die Haare wallen wild um den Kopf, die Augen starren uns wütend an. Ich stürze zu Carmel hinüber und baue mich zwischen den beiden auf.
»Cas, was tust du da?«, fragt Carmel
Weitere Kostenlose Bücher