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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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normale Leute. Was ist das jetzt? Eine Art verdrehtes Stockholm-Syndrom?
    »Warum bist du hier? Willst du mich wieder töten?«
    »So seltsam es klingt, nein. Ich … ich habe schlecht
geträumt und wollte mit jemandem reden.« Ich fahre mir mit gespreizten Fingern durch die Haare. So unsicher habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht noch nie. »Ich dachte, na ja, Anna ist bestimmt wach, und deshalb bin ich hergekommen.«
    Sie schnaubt leise, dann runzelt sie die Stirn. »Was könnte ich denn sagen, worüber könnten wir reden? Ich bin schon lange aus der Welt raus.«
    Ich zucke mit den Achseln und spreche die nächsten Worte aus, ohne richtig darüber nachgedacht zu haben. »Also, ich war eigentlich noch nie richtig in der Welt drin.« Ich beiße die Zähne zusammen und starre den Boden an. Ich kann gar nicht glauben, dass ich auf einmal so ein Emo bin und vor einem Mädchen herumjammere, das mit sechzehn brutal ermordet wurde. Sie ist in diesem Haus voller Leichen gefangen, und ich darf zur Schule gehen und ein Trojaner sein. Ich darf die Sandwichs mit Käse und Erdnussbutter essen, die meine Mutter macht, und …
    »Du gehst zu den Toten«, sagt sie leise. Ihre Augen leuchten und verraten – ich kann es nicht glauben – echtes Mitgefühl. »Du kommst zu uns, seit …«
    »Seit mein Vater gestorben ist«, erkläre ich. »Davor ist er zu euch gegangen, und ich bin seinem Beispiel gefolgt. Der Tod ist meine Welt. Alles andere, die Schule und die Freunde, sind nur Dinge, die mir auf dem Weg zu dem nächsten Geist in die Quere kommen.« So habe ich es noch nie formuliert, ich habe nie gewagt, diese Wahrheit länger als eine Sekunde ins Auge zu fassen. Ich habe mich auf meine Aufgabe
konzentriert und es dabei strikt vermieden, gründlich über das Leben und die Lebenden nachzudenken, obwohl meine Mutter mich immer gedrängt hat, etwas Schönes zu tun, auszugehen, mich für ein College zu bewerben.
    »Warst du nie traurig darüber?«, fragt sie.
    »Nicht sehr oft. Ich habe diese höhere Macht gespürt und hatte eine Aufgabe.« Ich hole den Athame aus der Gesäßtasche und ziehe die Klinge aus der Lederscheide. Sie schimmert im grauen Licht. Etwas in meinem und im Blut meines Vaters macht aus der Waffe mehr als nur ein Messer. »Ich bin der Einzige auf der Welt, der dies tun kann. Heißt das nicht, dass ich es tun muss?« Als ich es ausgesprochen habe, bereue ich es sofort wieder, denn ich habe mir selbst alle Auswege verbaut. Anna verschränkt ihre blassen Arme vor der Brust. Als sie den Kopf schief legt, streichen die Haare über ihre Schulter. Es ist seltsam, wie sie dort in gleichmäßigen dunklen Strähnen liegen. Ich warte darauf, dass sie zucken und wieder in der unsichtbaren Strömung schweben.
    »Es ist nicht fair, wenn man keine Wahlmöglichkeit hat«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Aber wenn man zu viele hat, ist es auch nicht leicht. Als ich noch gelebt habe, konnte ich mich nicht entscheiden, was ich tun und was ich werden wollte. Ich habe gern fotografiert und wollte für eine Zeitung arbeiten. Ich habe aber auch gern gekocht, also wollte ich nach Vancouver ziehen und ein Restaurant eröffnen. Ich hatte eine Million verschiedene Träume, aber
keiner war stärker als die anderen. Am Ende hätten sie mich wahrscheinlich gelähmt, und ich wäre einfach hiergeblieben und hätte die Pension geleitet.«
    »Das kann ich nicht glauben.« Dieses vernünftige Mädchen, das mit einem Fingerschnippen töten kann, wirkt so stark. Sie hätte all dies hinter sich gelassen, wenn sie nur die Gelegenheit bekommen hätte.
    »Ehrlich gesagt, kann ich mich kaum erinnern«, seufzt sie. »Ich glaube nicht, dass ich im Leben besonders stark war. Jetzt scheint es mir so, als hätte ich jeden einzelnen Augenblick geliebt, und als wäre jeder Atemzug verzaubert und frisch gewesen.« Sie legt sich theatralisch die Hände auf die Brust und atmet tief durch die Nase ein, dann schnauft sie. »Wahrscheinlich war es gar nicht so. Trotz all meiner Träume und Fantasien war ich wohl nicht … wie nennt man das? Nicht forsch genug.«
    Ich lächle, und auch sie lächelt und schiebt sich die Haare hinter das Ohr, mit einer Geste, die so lebendig und menschlich wirkt, dass ich ganz vergesse, was ich sagen wollte.
    »Wo waren wir noch gleich?«, frage ich. »Du willst mich dazu bringen, dich nicht zu töten, nicht wahr?«
    Anna verschränkt die Arme vor der Brust. »Wenn man bedenkt, dass du mich gar

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