Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
laut, dass jedes lebende Zahnfleisch längst bluten würde. Der Impuls, mit dem Athame aufzuspringen, lässt mein Herz wieder schneller schlagen. Doch ich atme nur tief ein. Anna hat mich bisher nicht getötet, und mein Instinkt sagt mir, dass sie es auch jetzt nicht tun will. Warum hätte sie sonst die Zeit mit der Vorführung der Leichen im Keller verschwenden sollen? Ich grinse sie frech an.
»Und wenn nicht?«, frage ich.
»Du bist hergekommen, um mich zu töten«, knurrt sie. Offenbar hat sie sich entschlossen, meine Frage zu ignorieren. »Aber das kannst du nicht.«
»Was genau macht dich jetzt eigentlich so wütend?« Dunkles Blut zieht durch ihre Augen und über ihre Haut. Sie ist widerlich, eine Killerin. Und trotzdem nehme ich an, dass ich in ihrer Gegenwart völlig sicher bin. »Ich werde einen Weg finden, Anna«, verspreche ich ihr. »Es wird einen Weg geben, dich zu töten und wegzuschicken.«
»Ich will nicht weggehen«, entgegnet sie. Sie verkrampft sich, und die Schwärze verschwindet wieder in ihrem Inneren, bis Anna Korlov vor mir steht, das Mädchen von dem Zeitungsfoto. »Aber ich verdiene den Tod.«
»Das war früher nicht so«, antworte ich ausweichend. Ich widerspreche ihr nicht, denn ich bezweifle, dass die Leichen im Keller nur ihrer Fantasie entsprungen sind. Irgendwo wird Mike Andover wohl wirklich langsam von den Mauern des Hauses gefressen, auch wenn ich es nicht sehen kann.
Sie schlackert mit dem Arm, auf dessen Handgelenk noch einige schwarze Adern zurückgeblieben sind. Sie schüttelt ihn schneller und schließt die Augen, bis sie verschwunden sind. Mir kommt in den Sinn, dass ich nicht einfach nur einen Geist betrachte, sondern einen Geist und irgendetwas, das mit diesem Geist geschehen ist. Es sind zwei unterschiedliche Erscheinungen.
»Du musst dagegen ankämpfen, nicht wahr?«, sage ich leise.
Sie reißt überrascht die Augen auf. »Am Anfang konnte ich mich überhaupt nicht dagegen wehren. Ich war nicht bei mir, ich war verrückt, in mir selbst gefangen, es war ein einziger großer Schrecken, der furchtbare Dinge getan hat, während ich mich in einen Winkel meines Bewusstseins zurückgezogen und hilflos zugesehen habe.« Sie legt den Kopf schief, die Haare fallen weich über ihre Schulter. Es sind zwei verschiedene Persönlichkeiten, die Göttin und das Mädchen. Ich kann mir vorstellen, wie das Mädchen, still und voller Angst in dem weißen Kleid, durch die eigenen Augen hinausspäht, als wären es Fenster. »Unsere Haut ist zusammengewachsen«, fährt sie fort. »Ich bin sie. Und ich bin das andere.«
»Nein«, erwidere ich, und als ich es ausspreche, weiß ich, dass es die Wahrheit ist. »Du trägst sie wie eine Maske. Du kannst sie ablegen. So wie du es getan hast, um mich zu verschonen.« Ich stehe auf und gehe um das Sofa herum. Verglichen mit der vorherigen Erscheinung wirkt sie jetzt sehr zerbrechlich, aber sie weicht nicht zurück und hält den Blickkontakt. Sie hat keine Angst. Sie ist traurig und neugierig, wie das Mädchen auf dem Foto. Ich frage mich, wie sie zu Lebzeiten war, ob sie gern gelacht hat, ob sie klug war. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass heute noch viel von diesem Mädchen übrig ist, ein halbes Jahrhundert und Gott weiß wie viele Morde später.
Dann erinnere ich mich daran, dass ich wirklich sauer bin. Ich deute zur Küchentür und zum Keller. »Was hatte das zu bedeuten?«
»Ich dachte, du solltest allmählich erkennen, womit du es zu tun hast.«
»Womit habe ich es denn zu tun? Mit einem launischen Mädchen, das in der Küche einen Wutanfall bekommt?« Ich kneife die Augen zusammen. »Du wolltest mich erschrecken und verscheuchen. Das armselige kleine Schauspiel sollte mich panisch fliehen lassen.«
»Ein armseliges kleines Schauspiel?«, verspottet sie mich. »Ich möchte wetten, dass du dir fast in die Hosen gemacht hast.«
Ich öffne den Mund und schließe ihn sofort wieder. Beinahe hätte sie mich zum Lachen gebracht, dabei wäre ich viel lieber wütend. So ein Mist auch. Ich muss tatsächlich lachen.
Anna blinzelt, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie bemüht sich ebenfalls, das Lachen zu unterdrücken.
»Ich war …« Sie hält inne. »Ich war wütend auf dich.«
»Warum denn?«, frage ich.
»Weil du mich töten wolltest«, sagt sie, und dann lachen wir beide.
»Nachdem du dir so große Mühe gegeben hast, mich nicht zu töten, war das wohl ziemlich unhöflich.« Ich lache mit ihr. Wir unterhalten uns wie zwei
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