Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
sie sich hin und her, als wollten sie sehen, was mit ihnen geschieht, hätten aber nicht mehr die Kraft dazu.
»Anna«, sage ich leise.
»Und die hier sind nicht einmal die Schlimmsten«, zischelt sie.
Das soll wohl ein Witz sein. Mit einigen dieser Toten sind grässliche Dinge geschehen. Ihnen fehlen Gliedmaßen oder sämtliche Zähne, sie haben Hunderte mit
Blut verkrustete Schnittwunden. Viel zu viele von ihnen sind noch sehr jung. Gesichter wie meines oder sogar noch jüngere, ihre Wangen sind aufgerissen und auf den Zähnen hat sich Schimmel gebildet. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Mike die Augen geöffnet hat. Ich muss hier raus. Zum Teufel mit der Gespensterjägerei, zur Hölle mit dem Familienvermächtnis. Ich bleibe keinen Augenblick länger in einem Raum voller Leichen.
Normalerweise habe ich keine Platzangst, aber im Moment muss ich mir das sehr nachdrücklich in Erinnerung rufen. Dann sehe ich etwas, das mir bisher nicht aufgefallen ist. Eine Treppe führt zum Erdgeschoss hinauf. Ich weiß nicht, wie Anna es geschafft hat, mich geradewegs im Keller landen zu lassen, und es ist mir auch egal. Ich will nur nach oben in den Vorraum. Und wenn ich oben bin, will ich möglichst schnell vergessen, was da unter meinen Füßen zappelt.
Als ich zur Treppe gehe, schickt sie das Wasser. Es bricht aus allen Richtungen über mich herein – aus Spalten in den Wänden, von unten durch den Boden. Es ist schmutzig und ziemlich schleimig und steht mir binnen Sekunden bis zu den Hüften. Voller Panik sehe ich den toten Landstreicher mit dem gebrochenen Hals an mir vorbeischwimmen. In dieser Gesellschaft will ich nicht baden. Ich will auch nicht über das nachdenken, was sich unter der Wasseroberfläche tummelt. Auf einmal, so dumm es auch ist, stelle ich mir vor, die aufgestapelten Leichen würden die Münder öffnen und über den Boden kriechen, um wie Krokodile nach
meinen Beinen zu schnappen. Ich dränge mich an dem Landstreicher vorbei, der auf dem Wasser tanzt wie ein wurmstichiger Apfel, und bin selbst überrascht, dass ich leise stöhne. Ich würge.
Als ich die Treppe erreiche, gerät ein Leichenstapel ins Rutschen und bricht mit einem widerlichen Platschen in sich zusammen.
»Anna, hör auf!«, huste ich und achte darauf, das grünliche Wasser nicht in den Mund zu bekommen. Ich fürchte, ich werde es nicht schaffen. Meine Kleidung ist so schwer wie in einem Albtraum, und ich krieche in Zeitlupe die Stufen hinauf. Endlich berührt meine Hand trockenen Boden, und ich kämpfe mich ganz hinauf ins Erdgeschoss.
Die Erleichterung hält höchstens eine halbe Sekunde an. Dann kreische ich wie ein kleines Mädchen und ziehe mich eilig von der Kellertür zurück, weil ich mit aufsteigendem Wasser und den Händen der Toten rechne, die mich wieder hinabziehen wollen. Doch der Keller ist trocken. Das graue Licht fällt bis nach unten, und ich erkenne die Stufen und ein Stück Erdboden. Es ist alles trocken, dort unten steht kein Wasser. Es sieht aus wie irgendein ganz normaler Keller, in dem man Einmachgläser lagert. Als würde ich mich noch nicht dumm genug fühlen, stelle ich jetzt fest, dass auch meine Kleidung völlig trocken ist.
Diese verdammte Anna. Ich mag es nicht, wenn jemand Raum und Zeit manipuliert oder Halluzinationen produziert. An so was gewöhnt man sich nie.
Schließlich stehe ich auf und klopfe mir das Hemd
ab, obwohl es gar nichts abzuklopfen gibt. Dann sehe ich mich um. Ich stehe in der ehemaligen Küche und erkenne einen verstaubten, schwarzen Ofen und einen Tisch mit drei Stühlen. Ich würde mich wirklich gern setzen, aber die Schranktüren öffnen und schließen sich plötzlich von selbst, Schubladen fahren quietschend aus und wieder ein, und aus den Wänden sickert Blut. Knallende Türen und schepperndes Geschirr. Anna benimmt sich jetzt wie ein gewöhnlicher Poltergeist. Das ist einfach nur peinlich.
Gleichzeitig fühle ich mich nun sicherer. Mit Poltergeistern kann ich umgehen. Ich zucke mit den Achseln, verlasse die Küche und gehe ins Wohnzimmer, wo das gemütliche Sofa unter dem Staubschutz wartet. Mit einer, wie ich hoffe, überzeugenden Unbekümmertheit lasse ich mich darauf fallen. Hoffentlich sieht man nicht, wie heftig meine Hände zittern.
»Raus hier!«, ruft Anna direkt hinter meiner Schulter. Ich spähe über die Rückenlehne des Sofas, und da ist sie, meine Todesgöttin. Ihre Haare wallen hinter ihr her wie eine große, schwarze Wolke, und ihre Zähne knirschen so
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