Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
verdränge den Gedanken daran, dass wir blutige Anfänger sind und wie albern die ganze Sache ist.
Morfran kommt pfeifend in den Laden und ignoriert uns völlig. Allerdings weiß er genau, was wir tun, denn er geht zur Tür und dreht das Schild auf »Geschlossen«.
»Warte mal«, sagt Will. Thomas wollte gerade mit Rezitieren beginnen, und die Unterbrechung bringt ihn ins Stolpern. »Warum müssen wir nach dem Spruch da raus? Sie ist dann doch geschwächt, oder? Warum töten wir sie nicht bei der Gelegenheit?«
»Genau das ist der Plan«, wirft Carmel ein. »Oder nicht, Cas?«
»Ja«, bestätige ich. »Je nachdem, wie es läuft. Wir wissen ja nicht einmal, ob es tatsächlich funktioniert.«
Sehr überzeugend wirke ich nicht. Ich glaube, ich habe beim Reden die ganze Zeit meine Schuhe angestarrt. Dummerweise ist ausgerechnet Will derjenige, der es bemerkt. Er zieht sich einen Schritt aus dem Kreis zurück.
»He, das kannst du nicht während des Spruchs tun«, fährt Thomas ihn an.
»Halt den Mund, Freak«, sagt Will geringschätzig, was mich in Rage versetzt. Er sieht mich an. »Warum musst ausgerechnet du es tun? Warum musst du derjenige sein, der das macht? Mike war mein bester Freund.«
»Ich muss es tun«, beharre ich tonlos.
»Warum?«
»Weil ich der Einzige bin, der den Athame führen kann.«
»Was ist so schwer daran? Hauen und stechen, oder nicht? Das kann jeder Idiot.«
»Bei dir würde es nicht klappen«, entgegne ich. »Bei dir wäre es nur ein Messer, und mit einem normalen Messer kannst du Anna nicht umbringen.«
»Das glaube ich nicht«, widerspricht er trotzig.
Verdammt. Ich brauche Will. Nicht nur, weil er den Kreis vervollständigt, sondern auch weil ich das Gefühl habe, ihm etwas schuldig zu sein und ihn einbeziehen zu müssen. Unter allen Menschen, die ich kenne, hat Anna ihm am meisten genommen. Was soll ich jetzt tun?
»Wir fahren mit deinem Auto«, sage ich. »Wir alle. Jetzt sofort.«
Wills Misstrauen lässt während der Fahrt nicht nach. Ich sitze neben ihm, Carmel und Thomas sind hinten. Ich habe keine Zeit, mir näher vorzustellen, wie feucht Thomas’ Hände gerade werden. Ich muss ihnen beweisen – ihnen allen –, dass ich das bin, was ich zu sein behaupte. Dies ist mein Auftrag und meine Mission. Und vielleicht muss ich mir das vor allem selbst beweisen, nachdem Anna mich, auch wenn ich es vielleicht unbewusst zugelassen habe, gründlich verprügelt hat.
»Wohin fahren wir?«, fragt Will.
»Das musst du mir sagen. Ich kenne mich in Thunder Bay nicht aus. Bring mich zu den Geistern.«
Will denkt darüber nach, leckt sich aufgeregt über die Lippen und sucht im Rückspiegel Carmels Blick. Er wirkt nervös, aber anscheinend weiß er schon, wohin es gehen soll. Wir halten uns fest, als er abrupt wendet.
»Der Cop«, sagt er.
»Der Cop?«, fragt Carmel. »Das ist nicht dein Ernst. Das ist doch nicht real.«
»Bis vor ein paar Wochen war das alles nicht real«, erwidert Will.
Wir fahren quer durch die Stadt bis in ein Gewerbegebiet und erreichen anschließend eine industriell genutzte Zone. Alle paar Blocks ändert sich die Umgebung. Bäume voller goldener und rötlicher Blätter wechseln sich mit Laternen und grellen Plastikschildern ab. Endlich erreichen wir eine Eisenbahnstrecke und eine Gruppe eintöniger Fabrikgebäude. Will
schneidet eine böse Grimasse und ist ziemlich ungeduldig. Er kann es nicht erwarten, mir zu zeigen, was er noch im Ärmel hat. Er hofft, ich werde bei der Prüfung versagen, er will mir beweisen, dass ich ein Schwätzer und Blender bin und nichts zu melden habe.
Thomas dagegen sitzt hinter mir wie ein aufgeregter Beagle, der nicht weiß, dass er zum Tierarzt gefahren wird. Ich muss zugeben, dass ich auch selbst etwas aufgeregt bin. Bisher gab es nur wenige Gelegenheiten, jemandem meine Arbeit zu zeigen. Ich weiß nicht, ob ich mich mehr darauf freue, Thomas zu beeindrucken oder Will das überlegene Gehabe gründlich auszutreiben. Nein, Will hat natürlich die höhere Priorität.
Will bremst, bis wir fast im Schritttempo fahren, und blickt zu den Gebäuden auf der linken Seite hinaus. Einige könnten alte Lagerhäuser sein, andere wirken wie billige Wohnbocks, die schon eine Weile leer stehen. Alle sind aus Standstein gebaut, der mit der Zeit verwittert ist.
»Da ist es«, sagt er. »Glaube ich jedenfalls«, fügt er murmelnd hinzu. Wir parken in einer Seitenstraße und steigen aus. Jetzt, wo wir am Ziel sind, wirkt Will nicht mehr ganz so
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