Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Hände über den Kopf gelegt, wiegt sich hin und her und murmelt vor sich hin.
»Hoppla«, flüstert Will. »Ich hätte nicht gedacht, dass jemand hier ist.«
»Hier ist auch niemand.« Sie zucken zusammen, als sie begreifen, was ich damit meine. Es spielt jetzt keine
Rolle mehr, ob sie mich genau in diese Situation bringen wollten. Wenn man es mit eigenen Augen wahrnimmt, ist das immer etwas ganz anderes. Ich winke ihnen, sich zurückzuhalten, und gehe in einem weiten Bogen um den Cop herum, weil ich ihn genauer betrachten will. Er hat die Augen weit aufgerissen und wirkt verängstigt. Er murmelt und schnattert wie ein Streifenhörnchen und gibt nur Unsinn von sich. Die Vorstellung, dass er zu Lebzeiten völlig normal gewesen sein muss, beunruhigt mich. Ich ziehe den Athame heraus – nicht, um ihm zu drohen, sondern vorsichtshalber für alle Fälle. Carmel keucht leise, was aus irgendeinem Grund seine Aufmerksamkeit erregt.
Er richtet ein glänzendes Auge auf sie. »Tu das nicht«, zischelt er. Sie weicht einen Schritt zurück.
»He«, sage ich leise, bekomme aber keine Antwort. Der Cop konzentriert sich ausschließlich auf sie. Vielleicht hat sie irgendetwas an sich, vielleicht erinnert sie ihn an die Geiseln – die Frau und die Tochter.
Carmel weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Sie hat den Mund geöffnet, und was sie sagen wollte, ist ihr im Hals stecken geblieben. Sie blickt rasch zwischen dem Cop und mir hin und her.
Ich spüre eine vertraute Achtsamkeit. So nenne ich das: eine Achtsamkeit. Ich atme nicht schneller, das Herz rast nicht, es pocht mir nicht in der Brust. Es ist viel subtiler. Mein Atem wird etwas tiefer, der Herzschlag kräftiger. Alles um mich her verlangsamt sich, alle Konturen schälen sich ungewöhnlich klar heraus. Es hat mit Selbstvertrauen und meiner natürlichen
Angriffslust zu tun. Es hängt mit dem Kribbeln in den Fingern zusammen, die den Griff des Athame halten.
Als ich Anna begegnet bin, ist dieses Gefühl nie erwacht. Das war es, was dort gefehlt hat, und vielleicht hat Will mir einen unverhofften Segen verschafft. Dies hier brauche ich, diese Anspannung, dieses Federn auf den Fußballen. Schlagartig erfasse ich die ganze Situation. Thomas denkt ernsthaft darüber nach, wie er Carmel am besten schützen kann, Will nimmt seinen Mut zusammen und möchte etwas unternehmen, um mir zu beweisen, dass ich nicht der Einzige bin, der etwas ausrichten kann. Vielleicht sollte ich ihm das Feld überlassen. Soll der Geist des Polizisten ihm doch einen gehörigen Schrecken einjagen und ihm zeigen, wo sein Platz ist.
»Bitte«, sagt Carmel. »Beruhigen Sie sich doch. Ich wollte eigentlich gar nicht herkommen, und ich bin nicht diejenige, für die Sie mich halten. Ich will niemandem wehtun!«
Dann passiert etwas Interessantes. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Gesichtszüge des Cops verändern sich. Es ist fast unmöglich zu verfolgen, so schwierig wie die Beobachtung einer Wasserströmung unter der Oberfläche eines Flusses. Die Nase wird breiter, die Wangenknochen verlagern sich nach unten, die Lippen werden schmaler, die Zähne nehmen im Mund neue Positionen ein. All das geschieht im Verlauf von zwei oder drei Lidschlägen. Auf einmal betrachte ich ein ganz anderes Gesicht.
»Interessant«, murmele ich. Aus dem Augenwinkel bemerke ich Thomas’ Blick, der mich zu fragen scheint, warum mir nicht mehr dazu einfällt. »Der Geist ist nicht nur der Cop«, erkläre ich. »In ihm stecken beide, der Cop und der Eisenbahner. Sie sind beide in einer einzigen Gestalt gefangen.« Ich glaube, ich sehe jetzt den Bahnarbeiter. Er hebt die Hände und zielt mit einem Gewehr auf Carmel.
Sie schreit, Thomas packt sie und reißt sie nieder. Will tut überhaupt nichts. Er sagt lediglich: »Es ist doch nur ein Geist, nur ein Geist.« Er sagt es immer wieder und spricht sehr laut, was verdammt dumm ist. Ich dagegen zögere nicht.
Der schwere Athame bewegt sich leicht in meiner Hand. Ich drehe die Klinge nach unten, bis die Spitze nicht mehr nach vorn, sondern eher nach unten weist – wie bei dem Kerl in Psycho , als er auf das Mädchen in der Duschecke einhackt. Aber ich will nicht auf ihn einhacken. Die Schneide ist nach vorn gerichtet, und als der Geist das Gewehr auf meine Freunde richtet, reiße ich den Arm zur Decke hoch. Der Athame trifft und schneidet ihm am Gelenk fast die Hand ab.
Er heult und weicht zurück, auch ich gehe auf Abstand. Lautlos fällt das Gewehr auf den Boden.
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