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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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eifrig.
    Ich nehme den Athame aus dem Beutel und werfe ihn mir über die Schulter, dann gebe ich Thomas den Beutel und nicke Will zu, uns den Weg zu zeigen. Er führt uns um das Gebäude und um zwei weitere herum, bis wir ein altes Wohnhaus erreichen. Die oberen Fenster sehen aus, als gehörten sie zu einem Apartment, davor hängen unbenutzte Blumenkästen. In der
Nähe entdecke ich eine bis zum Boden ausgefahrene Feuerleiter. Ich rüttele an der Haustür. Ich weiß nicht, warum sie nicht abgeschlossen ist, aber es ist so, und das ist gut. Es hätte höchst verdächtig ausgesehen, wenn wir an der Seite hochgeklettert wären.
    Im Gebäude winkt Will uns, die Treppe hinaufzusteigen. Die Luft riecht säuerlich und schal, als hätten hier früher viele verschiedene Menschen gelebt, und als hätte jeder seinen eigenen Geruch hinterlassen, der sich nicht mit denen der anderen vermischen will.
    »So«, sage ich. »Kann mir jemand verraten, womit wir es hier zu tun haben?«
    Will schweigt und wirft Carmel einen Blick zu, die daraufhin das Erklären übernimmt.
    »Vor ungefähr acht Jahren gab es in der Wohnung da oben eine Geiselnahme. Ein Eisenbahnarbeiter ist durchgedreht, hat seine Frau und seine Tochter im Bad eingesperrt und mit einem Gewehr herumgefuchtelt. Als die Cops kamen, haben sie zuerst jemanden zum Verhandeln reingeschickt. Es ist nicht gut gelaufen.«
    »Was meinst du damit?«
    »Sie meint damit«, ergänzt Will, »dass der Unterhändler einen Schuss in die Wirbelsäule bekam, ehe der Bösewicht sich selbst in den Kopf geschossen hat.«
    Ich versuche, die Informationen zu verdauen und verzichte darauf, mich über Will lustig zu machen, weil er »Bösewicht« gesagt hat.
    »Die Frau und die Tochter haben überlebt«, berichtet Carmel. Sie ist nervös und aufgeregt.
    »Wo bleibt die Gespenstergeschichte?«, frage ich.
»Bringt ihr mich jetzt in eine Wohnung, in der ein schießwütiger Eisenbahnarbeiter umgeht?«
    »Es ist nicht der Eisenbahner«, antwortet Carmel. »Es ist der Cop. Nach seinem Tod hat man ihn angeblich zweimal hier gesehen. Die Leute haben ihn durch das Fenster beobachtet und gehört, wie er mit jemandem geredet hat. Er wollte jemanden überzeugen, irgendetwas nicht zu tun. Einmal soll er sogar mit einem kleinen Jungen auf der Straße gesprochen haben. Er hätte aus dem Fenster geschaut und den Jungen angebrüllt, von der Straße zu verschwinden. Der Kleine ist zu Tode erschrocken.«
    »Vielleicht ist das aber auch nur eine Großstadtlegende«, wirft Thomas ein.
    Meiner Erfahrung nach trifft das gewöhnlich nicht zu. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt etwas entdecken werden, und wenn ja, ob ich ihn töten soll. Schließlich weist nichts darauf hin, dass der Cop tatsächlich jemanden verletzt hat, und wir haben es uns zur Regel gemacht, die ungefährlichen Geister in Ruhe zu lassen, so sehr sie auch heulen und mit den Ketten rasseln.
    Unsere Regeln. Der Athame drückt schwer auf meine Schulter. Diesen Dolch kenne ich schon, solange ich lebe. Ich habe gesehen, wie die Klinge durch Licht und Luft gezuckt ist, zuerst in der Hand meines Vaters und dann in meiner eigenen. Die Macht, die sie besitzt, singt für mich. Sie durchflutet meinen Arm und den Oberkörper. Siebzehn Jahre lang hat mich die Waffe beschützt und mir Kraft geschenkt.
    Die Blutsbande, hat Gideon oft gesagt. Das Blut
deiner Vorfahren hat diesen Athame geschmiedet. Mächtige Männer haben gekämpft und ihr Blut gegeben, um die Geister zu besiegen. Der Athame gehört deinem Vater und jetzt dir, und ihr beide gehört zu ihm.
    Das hat er mir gesagt. Manchmal hat er dabei komische Gesten gemacht, mit einem seltsamen Mienenspiel. Das Messer gehört mir, und ich liebe es, wie man einen treuen Hund liebt. Mächtige Männer, wer sie auch waren, haben das Blut meiner Vorfahren – das Blut von Kriegern – in seine Klinge hineingegeben. Es erlegt die Geister, aber ich weiß nicht, wo diese danach landen. Gideon und mein Vater haben mich gelehrt, diese Frage nicht zu stellen.
    Ich denke angestrengt darüber nach, während ich abwesend die anderen in die Wohnung führe. Die Tür steht noch offen, und wir gehen geradewegs ins leere Wohnzimmer. Wir laufen über den nackten Boden, sogar den Teppich hat man entfernt. Der Boden sieht wie Pressspan aus. Ich bleibe so abrupt stehen, dass Thomas von hinten gegen mich prallt. Zuerst glaube ich, der Raum sei leer.
    Dann bemerke ich die schwarze Gestalt, die in einer Ecke am Fenster kauert. Sie hat die

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