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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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hilfsbereit, aber nicht
übereifrig die Hand aus. Sie ist gar nicht so affig, wie ich anfangs dachte.
    »Fühlst du es?«, fragt Thomas mit strahlenden Augen.
    »Was denn?«
    »Die Energien kommen in Bewegung.«
    Will sieht sich skeptisch um. »Mir ist eigentlich nur kalt«, antwortet er unwirsch.
    »Wir zünden jetzt von Osten her gegen den Uhrzeigersinn die Kerzen an.«
    Vier kleine Flammen entstehen und beleuchten unsere Gesichter und die Oberkörper. Die anderen machen halb erstaunte, halb ängstliche Mienen und kommen sich wohl auch etwas dumm vor. Nur Thomas lässt sich nicht beirren. Er achtet kaum noch auf uns, sondern hat die Augen geschlossen. Als er zu sprechen beginnt, ist seine Stimme eine Oktave tiefer als gewöhnlich. Ich sehe Carmel an, dass sie sich fürchtet, aber sie sagt nichts.
    »Beginnt mit dem Gesang«, befiehlt Thomas, und wir gehorchen. Ich kann es gar nicht glauben, aber keiner von uns kommt durcheinander. Es ist ein lateinischer Text von lediglich vier Worten, die wir unablässig wiederholen müssen. In unserer Sprache klingen sie dumm, aber je länger wir sie rezitieren, desto weniger dumm fühlt es sich an. Sogar Will ist mit ganzem Herzen bei der Sache.
    »Nicht aufhören.« Thomas öffnet die Augen. »Wir gehen jetzt ins Haus. Brecht nicht den Kreis.«
    Als wir zusammen hinübergehen, spüre ich die Kraft
des Spruchs. Ich fühle, wie wir gleichzeitig die Beine bewegen, als wären sie mit unsichtbaren Fäden verbunden. Die Kerzenflammen stehen aufrecht ohne zu flackern wie ein verfestigtes Feuer. Ich kann nicht glauben, dass Thomas all dies tut – der kleine, unbeholfene Thomas, der seine Kräfte unter einer Tarnjacke versteckt. Wir steigen die Treppe hoch, und ehe ich richtig nachdenken kann, haben wir ihre Tür erreicht.
    Anna öffnet und blickt zu uns heraus.
    »Du bist gekommen, um es zu tun«, sagt sie traurig. »Du musst es tun.« Dann wendet sie sich an die anderen. »Du weißt, was geschieht, wenn sie hereinkommen«, warnt sie mich. »Ich kann es nicht beherrschen.«
    Ich will ihr sagen, dass alles gut wird, und sie bitten, es wenigstens zu versuchen. Aber ich darf nicht aufhören zu rezitieren.
    »Er sagt, es wird alles gut«, spricht Thomas hinter mir meine Gedanken aus. Meine Stimme bricht beinahe. »Er will, dass du es versuchst. Du musst in den Kreis treten. Mach dir unseretwegen keine Sorgen. Wir sind geschützt.«
    Ausnahmsweise bin ich froh, dass Thomas meine Gedanken liest. Anna blickt zwischen ihm und mir hin und her, dann gibt sie schweigend die Tür frei. Ich trete als Erster über die Schwelle.
    Ich spüre es, als die anderen drinnen sind. Nicht nur, weil wir die Beine wie ein einziges Wesen bewegen, sondern auch weil Anna sich verändert. Adern kriechen ihr über Arme und Hals und ins Gesicht.
Ihre Haare werden glatt und schimmern schwarz, ein Ölfilm scheint ihre Augen zu bedecken. Das weiße Kleid ist mit hellrotem Blut getränkt, und das Mondlicht lässt es glänzen wie Plastik. Die Tropfen laufen an ihren Beinen hinunter und fallen auf den Boden.
    Der Kreis hinter mir zögert nicht. Ich bin stolz auf sie. Vielleicht sind sie doch richtige Ghostbuster.
    Anna hat die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass das schwarze Blut durch ihre Finger quillt. Sie tut, worum Thomas sie gebeten hat. Sie versucht, sich zu beherrschen, sie versucht, den Drang zu unterdrücken, uns die Kehlen zu zerfetzen und die Arme aus den Schultern zu reißen. Ich führe den Kreis weiter, und sie schließt die Augen. Unsere Beine bewegen sich schneller. Carmel und ich stehen einander gegenüber. Der Kreis öffnet sich kurz und lässt Anna herein. Einen Moment lang ist Carmel völlig verdeckt, ich sehe nur noch Annas blutenden Körper. Dann ist sie drinnen, und der Kreis schließt sich wieder.
    Gerade noch rechtzeitig. Länger hätte sie sich nicht beherrschen können. Jetzt reißt sie Augen und Mund weit auf und stößt einen markerschütternden Schrei aus. Sie hackt mit gekrümmten Fingern um sich. Will weicht unwillkürlich ein wenig zurück, aber Carmel reagiert sofort und legt die Hühnerkrallen auf der Stelle, über der Anna schwebt, auf den Boden. Der Geist bebt und rührt sich nicht mehr, dreht sich langsam um sich selbst und betrachtet uns voller Hass.
    »Der Kreis ist geschlossen«, verkündet Thomas. »Sie ist gefangen.«
    Er kniet nieder, und wir folgen seinem Beispiel. Es ist seltsam, dass unsere Beine sich anfühlen, als seien sie nur ein einziges. Er stellt die silberne

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