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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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stärker.« Ich betrachte das Häufchen Fünffingergras.
»Aber sie ist auch lebendiger. Sie ist nicht verwirrt, sie ist kein waberndes, nur halb existierendes Wesen, das aus Furcht oder Wut tötet. Etwas hat ihr dies angetan, und sie weiß es.«
    »Wie viel weiß sie?«
    »Ich glaube, sie weiß alles, hat aber zu große Angst, es mir zu sagen.«
    Meine Mom wischt sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Nach dieser Nacht wirst du es durchschauen.«
    Ich rutsche von der Anrichte herunter. »Ich glaube, ich weiß es bereits«, sage ich wütend. »Ich ahne, wer sie getötet hat.« Ich musste die ganze Zeit daran denken. Ich denke an den Mann, der sie terrorisiert hat, dieses junge Mädchen, und will ihm die Zähne einschlagen. Mit Roboterstimme berichte ich meiner Mutter, was Anna mir erzählt hat. Als ich sie ansehe, hat sie große, weiche Augen wie eine Kuh.
    »Das ist ja schrecklich«, sagt sie.
    »Ja.«
    »Aber du kannst nicht ändern, was einmal geschehen ist.«
    Ich wünschte, ich könnte es. Ich wünschte, das Messer wäre nicht nur zum Töten, sondern noch zu etwas anderem gut, und ich könnte in der Zeit zurückspringen, in das Haus eindringen, in die Küche, wo er ihr zugesetzt hat, und sie dort herausholen. Ich würde dafür sorgen, dass sie die Zukunft bekommt, die ihr zusteht.
    »Sie will die Menschen nicht töten, Cas.«
    »Ich weiß. Aber wie kann ich dann …«
    »Du kannst es, weil du es musst«, sagt sie einfach. »Du kannst es, weil du es auch für sie tun musst.«
    Ich betrachte das Messer, das im Salzfass steckt. Ein Geruch wie von schwarzen Geleebohnen macht sich in der Küche breit. Meine Mom schneidet ein neues Kraut.
    »Was ist das?«
    »Sternanis.«
    »Wozu ist der gut?«
    Sie lächelt leicht. »Er riecht gut.«
    Ich atme tief durch. In weniger als einer Stunde wird alles bereit sein, und dann holt Thomas mich ab. Ich werde die kleinen Samtbeutel mit den langen Schnüren und die vier mit Kräuteressenz parfümierten Kerzen mitnehmen, und er bringt die Wahrsageschale und den Beutel mit den Steinen mit. Und dann werden wir versuchen, Anna Korlov zu töten.

Das Haus wartet. Die anderen umringen mich in der Einfahrt und fürchten sich zu Tode vor dem, was dort drinnen ist, aber mir macht das Haus selbst viel mehr Angst. Ich weiß, wie dumm das klingt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es mich beobachtet und lächelnd oder grinsend unsere kindischen Versuche verfolgt, es aufzuhalten. Das Lachen erschüttert es bis in die Fundamente, während wir ihm mit Hühnerkrallen drohen.
    Es ist kalt. Carmels Atem steht in heißen kleinen Wolken vor ihrem Gesicht. Sie trägt eine dunkelgraue Cordjacke und einen roten, grobmaschigen Schal. Darunter verbirgt sich der Kräuterbeutel meiner Mutter. Will hat natürlich eine Sportjacke von der Schule angezogen, und Thomas sieht mit den Tarnklamotten aus dem Army-Shop wie immer ziemlich heruntergekommen aus. Er und Will kramen herum und legen die Steine aus dem Lake Superior in einem anderthalb Meter großen Kreis rings um uns aus.
    Carmel stellt sich neben mich, während ich das Haus anstarre. Den Athame habe ich mir am Riemen
über die Schulter gehängt. Ich werde ihn später in die Hosentasche schieben. Carmel schnüffelt an ihrem Kräuterbeutel.
    »Das riecht nach Lakritz«, bemerkt sie und riecht auch an meinem, um sich zu vergewissern, dass der Inhalt identisch ist.
    »Das war klug von deiner Mom«, meint Thomas, der hinter uns beschäftigt ist. »Es war im Spruch gar nicht vorgesehen, aber es kann nie schaden, einen Glücksbringer einzusetzen.«
    Carmel lächelt ihn im weichen Zwielicht an. »Wo hast du das alles gelernt?«
    »Von meinem Opa«, antwortet er stolz und gibt ihr eine Kerze. Eine weitere bekommt Will, und auch ich erhalte eine. »Bereit?«, fragt er.
    Ich blicke zum Mond hinauf. Er ist hell und kalt und scheint immer noch voll zu sein. Dem Kalender nach nimmt er jedoch schon wieder ab, und da die Leute, die Kalender machen, gut bezahlt werden, wird es wohl stimmen.
    Jedenfalls sind wir bereit.
    Der Steinkreis ist ungefähr zehn Schritte vom Haus entfernt. Ich nehme meinen Platz im Westen ein, auch die anderen begeben sich auf ihre Positionen. Thomas versucht, die Wahrsageschale mit einer Hand zu balancieren, während er mit der anderen die Kerze hält. Aus der Jackentasche lugt eine Flasche Dasani.
    »Gib doch Carmel die Hühnerkrallen«, schlage ich vor, als er sie noch zusätzlich zwischen zwei Finger einklemmen will. Sie streckt

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