Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
gelassen hat: vorsichtig und hoffnungsvoll. Mit den Fingerspitzen fährt sie über das Holz des verzogenen Geländers, als sei es das Schönste, was sie je gefühlt hat. Irgendwie freue ich mich darüber, denn sie hat nichts von dem, was ihr zugestoßen ist, verdient. Ich will ihr mehr geben als diese verfallene Veranda. In diesem Moment will ich ihr das ganze Leben, ihr eigenes Leben, zurückgeben.
Andererseits weiß ich von den Leichen in ihrem Keller. Von den Seelen, die sie gestohlen hat. Auch sie waren unschuldig. Ich kann Anna ihr Leben nicht zurückgeben, weil sie es längst verloren hat. Vielleicht habe ich einen Riesenfehler begangen.
»Ich glaube, wir sollten hier verschwinden«, sagt Thomas leise.
Ich blicke zu Carmel, die nickt. Als wir zur Tür gehen, bleibe ich zwischen ihnen und Anna, obwohl ich ohne das Messer sowieso nicht viel ausrichten kann. Sie hört uns herauskommen, dreht sich um und betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Keine Sorge«, sagt sie. »Ich werde ihnen nichts tun.«
»Bist du sicher?«, frage ich.
Ihr Blick wandert zu Carmel. Sie nickt. »Ich bin sicher.« Hinter mir seufzen Carmel und Thomas erleichtert und treten unsicher aus meinem Schatten heraus.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, frage ich.
Sie denkt kurz nach und sucht nach den richtigen Worten. »Ich fühle mich … normal. Kann das sein?«
»Na ja, vielleicht nicht ganz«, platzt Thomas heraus. Ich versetze ihm einen Rippenstoß. Anna lacht aber nur.
»Beim ersten Mal hast du ihn gerettet.« Sie beäugt Thomas genauer. »Ich erinnere mich an dich. Du hast ihn hinausgezogen.«
»Ich glaube, du hättest ihn sowieso nicht getötet«, erwidert Thomas, aber seine Wangen bekommen trotzdem wieder etwas Farbe. Es gefällt ihm, vor Carmel den Helden zu spielen.
»Warum hast du es nicht getan?«, will Carmel wissen. »Warum hast du Cas nicht getötet, sondern nur Mike?«
»Mike«, antwortet Anna leise. »Das weiß ich nicht. Vielleicht, weil die anderen böse waren. Sie haben Cas
hereingelegt. Ja, sie waren grausam. Vielleicht … vielleicht hat er mir leidgetan.«
Ich schnaube. »Mitleid? Mit den Burschen wäre ich schon fertiggeworden.«
»Sie haben dir ein Brett aus meinem Haus über den Schädel gehauen.« Anna zieht wieder die Augenbrauen hoch.
»Du sagst immer nur ›vielleicht‹«, unterbricht Thomas. »Weißt du es denn nicht genau?«
»Nein, ich weiß es nicht genau«, bestätigt Anna. »Jedenfalls bin ich froh darüber«, fügt sie hinzu und lächelt. Sie würde gern noch mehr sagen, wendet sich aber verlegen oder verwirrt ab. Genau kann ich es nicht erkennen.
»Wir sollten jetzt aufbrechen«, dränge ich. »Der Spruch war sehr anstrengend, und wir könnten alle ein wenig Schlaf gebrauchen.«
»Aber du kommst doch wieder her?«, fragt Anna, als fürchtete sie, mich nie wiederzusehen.
Ich nicke. Ja, ich werde zurückkommen, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich dann tun werde. Will darf den Athame keinesfalls behalten, und ich weiß nicht, ob Anna sicher ist, solange er ihn hat. Aber das ist Blödsinn. Wer sagt denn, dass sie sicher ist, wenn ich ihn habe? Ich muss dringend ausschlafen. Ich muss mich erholen, mich sammeln und alles durchdenken.
»Wenn ich nicht im Haus bin, dann ruf mich«, sagt Anna. »Ich bin nicht weit weg.«
Der Gedanke, dass sie in Thunder Bay herumläuft, gefällt mir gar nicht. Ich weiß nicht, wozu sie fähig
ist, und meine misstrauische Seite flüstert mir zu, dass man mich gerade hereingelegt hat. Das kann ich in diesem Augenblick aber nicht ändern.
»War das nun ein Sieg?«, fragt Thomas, als wir uns auf der Zufahrt entfernen.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich. Es fühlt sich jedenfalls nicht danach an. Mein Athame ist weg, Anna ist frei, und die einzige Sicherheit, die ich in Herz und Verstand finden kann, ist die, dass es noch lange nicht vorbei ist. Ich spüre jetzt schon eine Leere, nicht in der Gesäßtasche oder auf der Schulter, sondern überall um mich her. Ich fühle mich schwach, als hätte ich tausend Lecks. Dieser Mistkerl hat mein Messer geklaut.
»Ich wusste gar nicht, dass du Finnisch kannst«, sagt Carmel, die neben Thomas geht.
Er grinst schief. »Kann ich auch nicht. Da hast du uns einen gewaltigen Spruch besorgt, Cas. Ich würde den Lieferanten wirklich gern mal kennenlernen.«
»Ich mache euch bei Gelegenheit miteinander bekannt«, verspreche ich ihm. Aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick dafür. Gideon ist der Letzte, mit
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