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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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dem ich reden will, nachdem ich das Messer verloren habe. Bei dem Geschrei würden mir die Trommelfelle platzen. Der Athame. Das Vermächtnis meines Vaters. Ich muss ihn zurückbekommen, und zwar bald.
     
    »Der Athame ist weg. Du hast ihn verloren. Wo ist er? «
    Er packt mich an der Kehle, will die Antworten aus mir herausschütteln und drückt mich aufs Kissen zurück.
    »Du bist so dumm, dumm, DUMM! «
    Als ich aufwache, sitze ich aufrecht im Bett und schwanke hin und her wie ein Spielzeugroboter. Der Raum ist leer. Natürlich ist er leer, sei nicht so dumm. Kaum dass ich den Vorwurf an mich selbst richte, stürze ich wieder in den Traum, aus dem ich noch gar nicht richtig erwacht bin. Die Erinnerung an seine Hände an meiner Kehle hält sich. Ich kann immer noch nicht sprechen, mein Hals und meine Brust sind eng. Ich atme tief aus und ein, mein Atem flattert, und ich muss beinahe schluchzen. Es fühlt sich an, als sei mein Körper voller leerer Stellen, wo ich das Gewicht des Dolchs spüren müsste. Mein Herz rast.
    War es mein Vater? Der Gedanke wirft mich zehn Jahre zurück, und auf einmal legen sich mir die Schuldgefühle eines Kindes um das Herz. Aber nein. Das ist nicht möglich. Das Wesen in meinem Traum hatte einen kreolischen oder einen Südstaatenakzent. Mein Vater ist jedoch in Chicago aufgewachsen und hat fast akzentfrei gesprochen. Es war eben nur ein Traum wie viele andere, aber in diesem Fall weiß ich wenigstens, woher er kommt. Man muss keine Freudsche Analyse betreiben, um zu erkennen, dass ich mich mies fühle, weil ich den Athame verloren habe.
    Tybalt springt mir auf den Schoß. Im Mondlicht, das in schrägen Strahlen durch das Fenster fällt, erkenne ich seine ovalen grünen Augen. Er setzt mir eine Pfote auf die Brust.
    »Ja«, sage ich. Im Dunkeln klingt meine Stimme zu grob und zu laut, verscheucht aber immerhin den
Traum. Er war ungewöhnlich lebendig. Ich erinnere mich noch ganz deutlich an den beißenden, bitteren Geruch von einer Art Rauch.
    »Miau«, macht Tybalt.
    »Damit hat Theseus Cassio wohl ausgeschlafen«, stimme ich zu, hebe ihn vom Bett und gehe nach unten.
    In der Küche setze ich Kaffee auf und lasse mich am Tisch nieder. Salzfass und Öl für den Athame stehen bereit, und meine Mom hat saubere Tücher dazugelegt, um ihn zu säubern, einzureiben und in Ordnung zu bringen. Er ist irgendwo da draußen, ich kann es spüren. Ich spüre ihn in den Händen von jemandem, der ihn nie hätte berühren dürfen. Allmählich bekomme ich mörderische Gedanken in Bezug auf Will Rosenberg.
    Drei Stunden später kommt meine Mom herunter. Ich sitze immer noch am Tisch und starre das Salzfass an, während es in der Küche langsam hell wird. Einmal oder zweimal ist mein Kopf auf das Holz gesunken, dann bin ich erschrocken wieder aufgefahren. Nachdem ich eine halbe Kanne Kaffee getrunken habe, fühle ich mich besser. Mom hat sich in den blauen Morgenrock gewickelt, und ihre Haare sind vom Schlaf zerzaust. Ihr Anblick beruhigt mich schlagartig, obwohl sie zum leeren Salzfass blickt und den Deckel darauflegt. Was hat der Anblick einer Mutter nur an sich, dass auf einmal alles warm ist wie am Kamin und man lauter tanzende Muppets sieht?
    »Du hast meine Katze gestohlen«, sagt sie und
schenkt sich ebenfalls einen Kaffee ein. Tybalt spürt meine innere Unruhe. Er ist mir die ganze Zeit um die Beine gestrichen, was er normalerweise nur bei meiner Mom tut.
    »Hier, du kannst ihn zurückhaben«, biete ich ihr an, als sie zum Tisch kommt. Ich hebe ihn hoch. Er hört erst zu fauchen auf, als sie ihn sich auf den Schoß setzt.
    »Hattest du letzte Nacht kein Glück?« Sie nickt in die Richtung des leeren Salzfasses.
    »Das kann man so oder so sehen. Es war durchwachsen, etwas Glück und etwas Pech.«
    Sie setzt sich zu mir und hört zu, als ich ihr von gestern Nacht erzähle. Ich berichte ihr alles, was wir gesehen und über Anna erfahren haben, wie ich den Fluch gebrochen und sie befreit habe. Die größte Peinlichkeit hebe ich mir bis zum Schluss auf: dass ich Dads Athame verloren habe. Ich kann ihr kaum in die Augen sehen, als ich es beichte. Sie ringt um ihre Fassung. Ich weiß nicht, ob sie wütend ist, weil der Athame weg ist, oder weil sie weiß, was der Verlust für mich bedeutet.
    »Ich glaube nicht, dass du einen Fehler gemacht hast, Cas«, sagt sie sanft.
    »Aber das Messer.«
    »Wir werden es zurückbekommen. Wenn nötig, rufe ich die Mutter des Jungen an.«
    Ich stöhne. Sie hat soeben

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