Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
die Grenze zwischen einer coolen Mom und einer Glucke überschritten.
»Aber was du mit Anna getan hast, halte ich wirklich nicht für einen Fehler«, wiederholt sie.
»Es war meine Aufgabe, sie zu töten.«
»Tatsächlich? War es nicht eher deine Aufgabe, sie aufzuhalten?« Sie lehnt sich zurück und legt beide Hände um die Kaffeetasse. »Bei dem, was du tust – und was dein Dad getan hat –, ging es nie um Rache. Es geht nicht um Vergeltung oder darum, die Waagschalen auszugleichen. Das ist nicht deine Aufgabe.«
Ich reibe mir mit der Hand über das Gesicht. Meine Augen sind zu müde, ich kann nicht richtig sehen. Mein Gehirn ist zu ausgelaugt, um einen klaren Gedanken zu fassen.
»Cas, du hast sie doch aufgehalten, oder?«
»Ja«, sage ich, obwohl ich nicht sicher bin. Es ging alles so schnell. Habe ich Annas dunkle Hälfte wirklich ausgeschaltet? Oder habe ich ihr nur ermöglicht, sie zu verbergen? Ich schließe die Augen. »Ich weiß es nicht genau. Ich glaube schon.«
Meine Mom seufzt. »Hör auf, so viel Kaffee zu trinken und geh wieder ins Bett.« Sie schiebt meine Tasse weg. »Und dann fährst du zu Anna und findest heraus, was aus ihr geworden ist.«
Ich habe schon viele Wechsel der Jahreszeiten beobachtet. Wenn man nicht durch Schule, Freunde und neue Filme abgelenkt wird, hat man Zeit, die Bäume zu betrachten.
Der Herbst ist in Thunder Bay schöner als an vielen anderen Orten, voller Farben und raschelndem Laub. Aber er ist auch wechselhaft. An kalten, feuchten Tagen türmen sich graue Wolken auf, dann ist es wieder eine
Weile wie heute. Die Sonne scheint so warm wie im Juli, und der Wind weht leicht und lässt die schimmernden Blätter leise tanzen.
Ich bin mit dem Auto meiner Mom zu Anna gefahren, nachdem ich Mom zum Einkaufen in der Stadt abgesetzt habe. Sie hat gesagt, sie werde mit einer Freundin nach Hause fahren. Sie findet schnell Anschluss, weil sie so offen und zugänglich ist. Ich bin eher verschlossen. Sie ist nicht wie ich und auch nicht so, wie mein Dad war. Aber im Grunde kann ich mich kaum an ihn erinnern. Das ärgert mich, und deshalb vermeide ich es, zu viel darüber nachzudenken. Ich würde viel lieber glauben, dass die Erinnerungen noch da sind, dicht unter der Oberfläche, ob das nun stimmt oder nicht.
Als ich mich dem Haus nähere, glaube ich rechts einen Schatten davonhuschen zu sehen, tue es aber als Täuschung meiner müden Augen ab … bis der Schatten weiß wird und ich die bleiche Haut erkenne.
»Ich bin nicht weit weggegangen«, sagt Anna, als ich zu ihr gehe.
»Du hast dich vor mir versteckt.«
»Ich habe dich nicht sofort erkannt. Ich muss vorsichtig sein. Niemand darf mich sehen. Auch wenn ich das Haus jetzt verlassen kann, heißt das noch nicht, dass ich nicht immer noch tot bin.« Sie zuckt mit den Achseln. Mich erstaunt ihre direkte Art. All das hätte sie doch viel stärker verletzen müssen, so sehr, dass sie den Verstand verliert. »Ich bin froh, dass du wieder da bist.«
»Ich muss wissen, ob du noch gefährlich bist«, sage ich.
»Wir sollten hineingehen«, entgegnet sie. Ich stimme sofort zu. Es ist seltsam, sie draußen im Sonnenlicht zu beobachten. Sie sieht in jeder Hinsicht aus wie ein Mädchen, das an einem schönen Nachmittag Blumen pflückt. Allerdings kann jeder, der sie aus der Nähe betrachtet, sofort erkennen, dass sie eigentlich frieren müsste, weil sie nur das dünne weiße Kleid trägt.
Sie führt mich ins Haus und schließt hinter uns die Tür, wie es sich für eine gute Gastgeberin gehört. Auch im Haus hat sich etwas verändert. Das graue Licht ist verschwunden. Ganz normales, weißes Sonnenlicht strömt durch die Fenster herein, wenngleich etwas gedämpft durch die schmutzigen Scheiben.
»Was willst du hören, Cas?«, fragt Anna. »Willst du wissen, ob ich noch mehr Menschen töten werde? Oder willst du erfahren, ob ich dies hier immer noch tun kann?« Sie hält sich eine Hand vor das Gesicht, und die dunklen Adern schlängeln sich bis zu den Fingern hinauf. Ihre Augen werden schwarz, und durch das weiße Kleid drängt sich ein anderes Gewand aus Blut nach vorn, viel heftiger als vorher. Überall fallen Blutstropfen herab.
Ich fahre zurück. »Oh Gott, Anna!«
Sie schwebt in der Luft und wiegt sich leicht, als spielte jemand ihre Lieblingsmusik.
»Das ist nicht sehr hübsch, was?« Sie rümpft die Nase. »Leider gibt es hier keine Spiegel mehr, aber
ich konnte mich in der Fensterscheibe sehen, als das Mondlicht
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