Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
glaube, ich habe noch nie gesehen, wie sie erschrocken ist. Ihre Haare richten sich wieder auf und winden sich. Sie ist wie eine Katze, die den Rücken krümmt und den Schwanz aufplustert.
»Was war das?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Ich kann nicht erkennen, ob sie verlegen oder ängstlich ist. Vielleicht beides zugleich.
»Erinnerst du dich an das, was ich dir im Keller gezeigt habe?«, fragt sie.
»Die Leichenstapel? Nein, das hatte ich völlig vergessen. Machst du Witze?«
Sie lacht nervös und überspielt ihre Angst.
»Sie sind immer noch da«, flüstert sie.
Mein Magen ergreift die Gelegenheit, sich mal wieder gründlich zusammenzuziehen, und die Füße bewegen sich ohne meine Erlaubnis. Die Erinnerung an die Leichen ist noch sehr präsent. Ich habe den muffigen Geruch des grünen Wassers und den Verwesungsgestank noch in der Nase. Die Vorstellung, dass sie jetzt aus eigenem Willen durch das Haus streifen, und genau das meint Anna wohl, stimmt mich nicht gerade fröhlich.
»Ich glaube, jetzt suchen sie mich heim«, sagt sie leise. »Deshalb bin ich nach draußen gegangen. Sie
machen mir keine Angst«, fügt sie rasch hinzu, »aber ich ertrage es nicht, sie zu sehen.« Sie hält inne und überkreuzt die Hände vor dem Bauch, als wollte sie sich umarmen. »Ich weiß, was du jetzt denkst.«
Wirklich? Ich weiß es ja nicht einmal selbst.
»Ich sollte mich hier mit ihnen einschließen. Es ist schließlich meine Schuld.« Sie wirkt aber nicht verstimmt und erwartet offenbar auch nicht, dass ich ihr widerspreche. Ernst blickt sie zu Boden. »Ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, dass ich alles rückgängig machen möchte.«
»Würde das etwas ändern?«, frage ich leise. »Würde es für dich etwas ändern, wenn Malvina sagte, es täte ihr leid?«
Anna schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Das war dumm.« Sie blickt kurz nach rechts zu dem zerbrochenen Dielenbrett, wo wir gestern Abend ihr Kleid aus dem Boden geholt haben. Es scheint fast, als hätte sie Angst davor. Vielleicht sollte ich Thomas holen, damit er das Loch versiegelt oder so.
Meine Hand zuckt. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und berühre sie an der Schulter. »Nein, du bist nicht dumm. Wir überlegen uns etwas, Anna. Wir exorzieren sie. Morfran weiß bestimmt, wie man sie vertreiben kann.« Jeder braucht doch etwas Trost, oder? Sie ist jetzt frei, und was geschehen ist, das ist eben geschehen. Sie muss eine Art Frieden finden. Doch hinter ihren Augen toben noch immer die düsteren, beunruhigenden Erinnerungen an das, was sie getan hat. Wie soll sie das jemals loslassen?
Ihr zu sagen, sie solle sich nicht quälen, würde alles nur noch schlimmer machen. Ich kann ihr nicht die Absolution erteilen. Aber ich will, dass sie es vergisst, und sei es nur für eine Weile. Sie war unschuldig, und es bringt mich fast um, dass sie nun nie wieder unschuldig sein kann.
»Du musst jetzt irgendwie in die Welt zurückkehren«, sage ich sanft.
Anna öffnet den Mund und will etwas erwidern, doch sie wird von dem Haus unterbrochen, durch das buchstäblich ein Ruck fährt, als hätte jemand es mit einem riesengroßen Wagenheber angehoben. Als es sich wieder beruhigt, knarrt es, und währenddessen erscheint vor uns eine Gestalt. Sie schält sich langsam aus den Schatten heraus, bis ein Mann vor uns steht. Eine bleiche, kalkweiße Leiche in der stillen Luft.
»Ich wollte doch nur schlafen«, sagt er. Es klingt, als hätte er Kieselsteine im Mund. Als ich näher hinsehe, erkenne ich, dass alle seine Zähne locker sind. In Verbindung mit der eingefallenen Haut lässt ihn das ziemlich alt erscheinen, aber wahrscheinlich war er kaum älter als achtzehn. Irgendein Ausreißer, der in das falsche Haus gestolpert ist.
»Anna«, sage ich und fasse sie am Arm, doch sie lässt sich nicht wegziehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, bleibt sie stehen, als er die Arme weit ausbreitet. Diese Pose, die an Christus erinnert, macht alles nur noch schlimmer. Das Blut tränkt seine zerlumpte Kleidung und färbt den Stoff überall dunkel, auf allen Gliedmaßen. Der Kopf sinkt schwach nach vorn, dann
pendelt er wild hin und her, und schließlich hebt der Mann ihn abrupt hoch und schreit.
Das reißende Geräusch, das ich höre, kommt nicht nur von seinem Hemd. Die Eingeweide quellen als groteskes Knäuel aus seinem Bauch, und er bricht zusammen. Er kippt nach vorn auf sie zu. Ich packe Anna und zerre sie zu mir. Als ich zwischen ihr und ihm stehe, bricht ein
Weitere Kostenlose Bücher