Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
weiterer Toter durch die Wand, dass der Staub und die Splitter in alle Richtungen fliegen. Er rutscht in einzelnen Fetzen über den Boden, Arme und Beine haben sich vom Körper gelöst. Der Kopf starrt uns an, während er über den Boden rollt, und fletscht die Zähne.
Ich habe keine Lust, mir die geschwärzte, verwesende Zunge genauer anzusehen, deshalb lege ich den Arm um Anna und ziehe sie weiter zur Seite. Sie stöhnt leise, lässt es aber zu. Wir eilen durch die Tür nach draußen ins sichere Tageslicht. Natürlich ist niemand da, als wir zurückblicken. Das Haus hat sich nicht verändert, auf dem Boden ist kein Blut, und in der Wand klafft kein Loch.
Als sie zur Vordertür zurückstarrt, wirkt Anna elend – schuldbewusst und voller Angst. Ohne nachzudenken ziehe ich sie an mich und halte sie fest. Mein beschleunigter Atem streicht durch ihre Haare. Mit zitternden Fäusten packt sie mein Hemd.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sage ich.
»Es gibt keinen anderen Ort, wohin ich gehen könnte«, entgegnet sie. »Es ist auch nicht so schlimm, wie es aussieht. Sie sind nicht sehr stark, so einen Auftritt
schaffen sie höchstens alle paar Tage, wenn überhaupt.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein. Was ist, wenn sie stärker werden?«
»Ich weiß nicht, was wir erwartet haben.« Sie löst sich aus meiner Umarmung. »Es war doch klar, dass alles seinen Preis hat.«
So gern ich auch widersprechen würde, mir fällt nichts Überzeugendes ein. Aber so kann es nicht weitergehen, das macht sie früher oder später verrückt. Mir ist egal, was sie dazu sagt.
»Ich rede mit Thomas und Morfran«, sage ich. »Sie wissen bestimmt, was man tun kann. Sieh mich an.« Ich hebe ihr Kinn hoch. »Ich lasse nicht zu, dass es so bleibt, das verspreche ich dir.«
Hätte sie noch genug Kraft, um eine Geste zu machen, dann wäre es wohl ein Achselzucken. Sie empfindet das alles hier als gerechte Strafe. Immerhin habe ich sie etwas aufgerüttelt, und sie widerspricht nicht. Als ich schon zum Auto unterwegs bin, zögere ich noch einmal.
»Kommst du zurecht?«
Anna lächelt ironisch. »Ich bin tot. Was kann mir da noch passieren?« Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie, während ich fort bin, die meiste Zeit außerhalb des Hauses bleiben wird. Ich gehe den Weg hinunter.
»Cas?«
»Ja?«
»Ich bin froh, dass du wieder hergekommen bist. Ich war nicht sicher, ob du es tun würdest.«
Nickend schiebe ich die Hände in die Hosentaschen. »Ich gehe hier nicht weg.«
Im Auto drehe ich das Radio voll auf. Es tut gut, wenn es nach einer so gespenstischen Stille in den Ohren scheppert. Ich mache das oft. Das Stück Paint It Black von den Stones kommt mir gerade recht. Leider wird es mittendrin durch eine Eilmeldung unterbrochen.
»Der Tote, bei dem es sich möglicherweise um das Opfer eines satanistischen Rituals handelt, wurde direkt hinter dem Tor des Parkview-Friedhofs gefunden. Zu der Identität des Toten hat die Polizei bislang keine Angaben gemacht, doch wie Channel 6 in Erfahrung bringen konnte, ist offenbar ein besonders brutales Verbrechen geschehen. Dem Opfer, einem Mann von Ende vierzig, wurden anscheinend sämtliche Gliedmaßen abgetrennt.«
Die Szene läuft vor mir ab wie eine Nachrichtensendung mit ausgeschaltetem Ton. Auf den Streifenwagen blitzen die roten und weißen Lichter, aber Sirenen sind nicht zu hören. Die Polizisten laufen mit bedrückten, ernsten Gesichtern in dunkelblauen Jacken herum. Sie geben sich äußerlich ruhig, als geschähe so etwas jeden Tag, aber einige würden sich wohl lieber ins Gebüsch verziehen und ihre Donuts wieder ausspucken. Ein paar stellen sich vor neugierige Kameraobjektive. Und irgendwo mittendrin liegt der zerfetzte Tote.
Ich wünschte, ich hätte einen Presseausweis im Handschuhfach oder genug Geld, um ein paar Cops zu bestechen und näher heranzukommen. Wie es aussieht, muss ich mich hinter dem gelben Absperrband bei den Pressevertretern herumdrücken.
Ich will nicht glauben, dass es Anna war. Das hieße ja, dass dieser Tote auf mein Konto geht. Ich will es nicht glauben, weil das bedeuten würde, dass ihr nicht zu helfen ist und dass es keine Erlösung gibt.
Gerade verlassen die Polizisten den Park mit einer fahrbaren Trage. Darauf liegt ein schwarzer Leichensack,
der normalerweise die Form eines menschlichen Körpers haben sollte. Der da sieht aber aus, als hätte man eine Hockeyausrüstung hineingestopft. Wahrscheinlich haben sie alles so gut wie möglich
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