Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
erfüllt die Luft zwischen uns. Ich kann es nicht glauben, so ein Typ war ich doch noch nie.
»Du hast mich gerettet«, sagt Anna schließlich. »Du hast mich befreit. Aber nur weil ich frei bin, heißt das noch nicht, dass … dass ich die Dinge haben kann, die …« Sie hält inne. Sie will noch mehr sagen, das ist völlig klar, aber ebenso sicher weiß ich auch, dass sie es nicht aussprechen wird.
Es kostet sie viel Überwindung, auf Abstand zu bleiben. Die Ruhe legt sich über sie wie eine Decke, verbirgt die Melancholie und lässt alle Wünsche nach etwas anderem verstummen. Tausend Worte drängen sich in meiner Kehle, doch ich beiße die Zähne zusammen. Wir sind beide keine Kinder mehr. Wir glauben nicht an Märchengeschichten. Und selbst wenn wir daran glaubten, was wären wir dann? Der Märchenprinz und Dornröschen? Ich hacke Mordopfern die Köpfe ab, und Anna zerfetzt Gliedmaßen und zerbricht Knochen wie dürre Zweige in kleine Stückchen. Wir wären ein Märchen mit einem bösen Drachen und
einer bösen Hexe. Das weiß ich. Trotzdem muss ich es ihr sagen.
»Es ist nicht fair.«
Anna verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln. Es sollte verbittert oder höhnisch sein, aber das ist es nicht.
»Weißt du, was du bist?«, fragt sie. »Du bist meine Rettung. Mein Weg zur Wiedergutmachung, damit ich für alles büßen kann, was ich getan habe.«
Als mir bewusst wird, worauf sie hinauswill, habe ich das Gefühl, einen Tritt vor die Brust bekommen zu haben. Es überrascht mich nicht, dass sie nicht zum Vergnügen loszieht und munter herumhüpft, aber ich hätte nie gedacht, dass sie nach alledem weggeschickt werden will.
»Anna«, antworte ich. »Bitte mich nicht, es zu tun.«
Sie schweigt.
»Wozu war das dann alles gut? Wozu habe ich dann gekämpft? Warum haben wir den Spruch gewirkt? Wenn du doch nur …«
»Hol dir das Messer zurück«, sagt sie. Dann löst sie sich direkt vor mir einfach auf und verschwindet in der anderen Welt, in die ich ihr nicht folgen kann.
Seit Anna frei ist, kann ich nicht mehr richtig schlafen. Ich habe endlose Albträume, in denen sich Schattengestalten über mein Bett beugen. Dann der Geruch von süßem, schwerem Rauch. Das Miauen der verdammten Katze vor meiner Schlafzimmertür. Es muss etwas geschehen. Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit. Früher habe ich immer geschlafen wie ein Stein, obwohl ich viel mehr düstere, gefährliche Orte aufgesucht habe als jeder andere. Die meisten Dinge, vor denen man sich in jener Welt überhaupt fürchten kann, habe ich gesehen, und um ehrlich zu sein, die schlimmsten sind diejenigen, vor denen man sich auch bei Licht fürchtet. Die Dinge, die man deutlich sehen und nie wieder vergessen kann, sind viel übler als die kauernden schwarzen Figuren, die hauptsächlich der Fantasie entspringen. Die Fantasie hat ein schlechtes Gedächtnis. Fantasien schleichen davon und verschwimmen. Die Augen erinnern sich länger.
Warum bin ich also nur wegen eines Traums so verstört? Weil er sich real anfühlt. Außerdem habe ich ihn schon viel zu oft geträumt. Ich öffne die Augen und
sehe nichts, aber eines weiß ich genau: Wenn ich unter das Bett lange, schießt von unten ein verwester Arm hervor und zerrt mich in die Hölle hinab.
Ich habe versucht, Anna die Schuld an diesen Albträumen zuzuschieben, und dann habe ich versucht, überhaupt nicht mehr an sie zu denken. Ich wollte vergessen, wie unsere letzte Unterhaltung geendet hat. Ich will vergessen, dass sie mich gebeten hat, den Athame zurückzuholen und sie damit zu töten. Unwillkürlich schnaube ich, wenn ich nur daran denke. Wie könnte ich das tun?
Also werde ich es nicht tun. Ich denke nicht weiter darüber nach und vertrödele die Zeit.
Mitten in der Geschichte des Altertums nicke ich ein. Glücklicherweise bemerkt Mr. Banoff es nicht, weil ich hinten sitze, während er ganz vorn an der Tafel etwas über die Punischen Kriege erzählt. Wahrscheinlich würde es mich sogar interessieren, wenn ich nur lange genug wach bleiben könnte, um mich dafür zu begeistern. Aber so kommt nur »Blabla« bei mir an. Ich nicke wieder ein, spüre einen toten Finger im Ohr und fahre auf. Dann das Ganze von vorn. Als die Glocke die Pause einläutet, reiße ich mich wieder einmal zusammen und blinzele, drücke mich von der Schulbank hoch und gehe zu Thomas’ Spind.
Dort lehne ich mich an die nächste Tür, während er seine Bücher verstaut. Er weicht meinem Blick aus. Irgendetwas
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