Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
zusammengelegt, doch als die Bahre über die Bordsteinkante fährt, verlagert sich der Inhalt, und wir können erkennen, wie in dem Leichensack ein Teil, der mit dem Rest offensichtlich nicht verbunden ist, herabrutscht. Die Zuschauer stoßen angewiderte Geräusche aus. Ich dränge mich durch die Menge und kehre zu meinem Auto zurück.
Kurz danach biege ich in ihre Einfahrt ein und stelle das Auto ab. Sie ist überrascht, mich schon wieder zu sehen, denn ich bin erst vor weniger als einer Stunde weggefahren. Als ich über den Kies laufe, weiß ich nicht, ob das Knirschen vom Boden oder von meinen mahlenden Zähnen kommt. Annas Miene wechselt von freudiger Überraschung zu Beunruhigung.
»Cas? Was ist denn los?«
»Sag du es mir.« Es überrascht mich selbst, wie sauer ich bin. »Wo warst du gestern Abend?«
»Was redest du da?«
Sie muss mich überzeugen. Sie muss jetzt sehr überzeugend sein.
»Sag mir einfach, wo du warst und was du getan hast.«
»Nichts habe ich getan«, antwortet sie. »Ich war in der Nähe des Hauses und habe meine Kräfte erprobt. Ich …« Sie hält inne.
»Was war los, Anna?«, bohre ich.
Ihre Miene verhärtet sich. »Als mir klar wurde, dass die Geister alle noch da sind, habe ich mich eine Weile im Schlafzimmer versteckt.« Sie sieht mich vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: So, da hast du es. Bist du jetzt zufrieden?
»Bist du ganz bestimmt nicht weggegangen? Hast du nicht versucht, dich in Thunder Bay umzusehen? Bist du nicht zum Park gegangen und hast aus lauter Langeweile einen armen Jogger zerfleischt?«
Als ich ihre betroffene Miene sehe, fließt die Wut durch die Schuhsohlen aus mir heraus. Ich öffne den Mund, um einen Rückzieher zu machen, aber wie soll ich ihr erklären, warum ich so wütend bin? Wie erkläre ich, dass sie mir ein besseres Alibi liefern muss?
»Ich kann nicht glauben, dass du mir solche Vorwürfe machst.«
»Und ich kann nicht glauben, dass du es so abwegig findest«, gebe ich zurück. Ich weiß selbst nicht, warum ich immer noch so angriffslustig bin. »Komm schon. In dieser Stadt werden nicht jeden Tag Menschen abgeschlachtet. Und ausgerechnet an dem Abend, nachdem ich den stärksten mörderischen Geist in der westlichen Hemisphäre freilasse, taucht ein Toter mit fehlenden Armen und Beinen auf. Das ist doch ein sehr ungewöhnlicher Zufall, meinst du nicht auch?«
»Aber es ist ein Zufall«, beharrt sie, während sie die zierlichen Hände zu Fäusten ballt.
»Weißt du nicht mehr, was gerade eben erst passiert ist?« Ich deute ungestüm auf das Haus. »Körperteile
abzureißen ist gewissermaßen dein Modus Operandi.«
»Was ist das denn?«, fragt sie.
Ich schüttele unwirsch den Kopf. »Begreifst du nicht, was es bedeutet? Verstehst du nicht, was ich tun muss, wenn du weiter tötest?«
Sie antwortet nicht, und meine verrückte Zunge plappert weiter.
»Es heißt, dass ich ernsthaft über eine Neuverfilmung von Sein Freund Jello nachdenken muss«, fauche ich und bereue es sofort wieder. Das war dumm und gemein, und sie hat begriffen, was ich damit sagen will. Natürlich weiß sie es. Der Film, in dem ein Junge seinen tollwütigen Hund erschießen muss, entstand Mitte der Fünfzigerjahre. Wahrscheinlich hat sie ihn damals im Kino gesehen. Schockiert und verletzt sieht sie mich an. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals mieser gefühlt habe. Dennoch gelingt es mir nicht recht, mich zu entschuldigen. Die Vorstellung, sie könne auch jetzt noch eine Mörderin sein, lässt mich nicht los.
»Ich habe es nicht getan. Wie kannst du so etwas denken? Ich ertrage doch selbst nicht, was ich angerichtet habe.«
Wir schweigen eine Weile, keiner von uns rührt sich. Anna ist verletzt und ringt mit den Tränen. Als wir einander ansehen, höre ich beinahe schon das Klicken, mit dem sich die Teile zusammenfügen. Im Kopf und in der Brust spüre ich es wie ein Puzzleteil, von dem man genau weiß, dass es irgendwo hineingehören muss, während man es nervös hin und her dreht. Und
dann auf einmal passt alles zusammen. So perfekt und elegant, dass man sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie ein paar Sekunden vorher die Lücke ausgesehen hat.
»Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es ist nur … Ich begreife nicht, was hier vor sich geht.«
Annas Augen werden weicher, und die trotzigen Tränen versiegen. An der Art, wie sie dasteht und atmet, erkenne ich, dass sie näher kommen will. Eine neue Gewissheit, der keiner von uns Ausdruck verleihen will,
Weitere Kostenlose Bücher