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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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Thomas stimmt ein, und auch Chase grunzt irgendetwas. Es klingt nach einem Handgemenge.
    »Nimm ihn bloß nicht in Schutz«, sagt Will. »Hast du nicht die Nachrichten gesehen? Es ist seine Schuld, dass jemand umgekommen ist.«
    Ich öffne die Augen. Will funkelt mich über Thomas’ Schulter hinweg an. Chase ist bereit, uns zu verprügeln. Seine blonden Haare stehen struppig vom Kopf ab, unter seinem T-Shirt spielen die Muskeln. Er brennt darauf, Thomas einen Stoß zu versetzen, sobald ihm sein Anführer den entsprechenden Befehl gibt.
    »Sie war es nicht.« Ich schnüffle und schlucke Blut. Es schmeckt salzig und nach altem Kleingeld. Als ich mir mit dem Handrücken die Nase abwische, entsteht ein roter Streifen.
    »Sie war es nicht«, höhnt er. »Hast du nicht gehört, was die Zeugen gesagt haben? Sie haben ein Heulen und Knurren gehört, aber es kam aus einer menschlichen Kehle. Sie sagten, sie hätten jemanden sprechen hören, der überhaupt nicht menschlich geklungen hat. Der Tote sei in sechs Stücke zerrissen worden. Klingt das nicht nach jemandem, den du kennst?«
    »Das klingt nach einer Menge Sachen«, knurre ich. »Es klingt nach einem billigen Horrorfilm.« Leider stimmt das nicht. Und wegen der Stimme, die gesprochen hat, ohne menschlich zu klingen, stehen mir die Haare zu Berge.
    »Du bist so blind«, sagt er. »Es ist deine Schuld. Seit du hergekommen bist, geht alles schief. Erst Mike und jetzt der arme Kerl im Park.« Er unterbricht sich, greift in seine Jacke und zieht mein Messer heraus. Anklagend zielt er damit auf mich. »Mach endlich deine Arbeit!«
    Was für ein Idiot! Er muss völlig den Verstand verloren haben, dass er mitten in der Schule ein Messer zieht. Es wird beschlagnahmt werden, und er darf sich auf wöchentliche Besuche bei einem Berater oder gar auf einen Schulverweis gefasst machen. Und ich darf dann Gott weiß wo einbrechen, um das Messer zurückzuholen.
    »Gib es mir«, sage ich. Meine Stimme klingt seltsam. Die Nase blutet nicht mehr, aber ich spüre das Blutgerinnsel. Wenn ich jedoch durch die Nase atme, um normal zu sprechen, schlucke ich es, und dann setzt die Blutung wieder ein.
    »Warum?«, fragt Will. »Du benutzt es ja doch nicht. Vielleicht benutze ich es jetzt.« Er richtet den Dolch auf Thomas. »Was glaubst du, was passiert, wenn ich einen lebenden Menschen absteche? Landen die dann am gleichen Ort wie die Toten?«
    »Lass ihn in Ruhe«, faucht Carmel. Sie schiebt sich zwischen Thomas und das Messer.
    »Carmel!«
    Thomas zerrt sie einen Schritt zurück.
    »Ach, jetzt hältst du ihm die Treue, was?« Er verzieht den Mund, als hätte er noch nie etwas so Widerliches gesehen. »So loyal hättest du Mike gegenüber sein müssen.«
    Mir gefällt nicht, in welche Richtung sich dies entwickelt. Die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, was passiert, wenn man den Athame gegen einen lebenden Menschen einsetzt. Meines Wissens ist das noch nie geschehen. Ich will mir nicht vorstellen, welche Wunden das Messer schlagen könnte. Vielleicht zieht es Thomas die Haut vom Gesicht ab und hinterlässt ein schwarzes Loch. Ich muss etwas tun, und das heißt eben manchmal, ein Arschloch zu sein.
    »Mike war ein Idiot«, sage ich laut. Will hält schockiert inne, und das ist genau das, was ich beabsichtigt habe. »Er hatte keine Loyalität verdient. Nicht die von Carmel und auch deine nicht.«
    Jetzt richtet er seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf mich. Die Klinge glänzt hell unter den Leuchtstoffröhren des Flurs. Ich will auch nicht, dass mir das Fell über die Ohren gezogen wird, aber ich bin neugierig
und frage mich, ob meine Verbindung zu dem Messer, mein Blutrecht, es zu führen, mich irgendwie schützt. Im Kopf wäge ich die Wahrscheinlichkeiten ab. Soll ich ihn anspringen? Es ihm entreißen?
    Doch statt wütend zu werden, grinst Will auf einmal.
    »Ich bringe sie um«, sagt er. »Deine süße, kleine Anna.«
    Meine süße, kleine Anna. Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen? War es denn die ganze Zeit für alle anderen außer für mich selbst so offensichtlich?
    »Sie ist nicht mehr schwach, du Idiot«, rufe ich. »Ob du ein magisches Messer hast oder nicht, du kommst nicht näher als zwei Meter an sie heran.«
    »Wir werden sehen«, antwortet er, und mir sinkt das Herz, als mein Athame, der Athame meines Vaters, im Dunkel seiner Jacke verschwindet. Jetzt würde ich ihn wirklich gern anspringen, aber ich will nicht, dass jemand verletzt wird. Wie um dies zu bekräftigen,

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