Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
in ein paar Minuten ein Verbrechen begehen wird.
Will wohnt in einer wohlhabenden, schönen Wohngegend der Stadt. Natürlich habe ich nichts anderes erwartet, schließlich sind seine Eltern mit Carmels Eltern befreundet. Von ihnen stammen die Ersatzschlüssel, die in meiner Hosentasche klimpern. Leider gibt es hier viel zu viele unterbeschäftigte Frauen oder Haushälterinnen, die aus den Fenstern sehen und sich fragen, was wir im Schilde führen.
»Ist es soweit?«, fragt Thomas. »Wie spät ist es?«
»Es ist noch nicht soweit.« Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, als hätte ich so etwas schon tausend Mal getan. Natürlich trifft das nicht zu. »Carmel hat noch nicht angerufen.«
Er beruhigt sich ungefähr eine Sekunde lang und holt tief Luft. Dann spannt er sich wieder an und versinkt plötzlich hinter dem Lenkrad.
»Ich glaube, ich habe einen Gärtner gesehen!«, flüstert er.
Ich ziehe ihn an der Kapuze wieder hoch. »Schwerlich. In den Gärten ist inzwischen alles verwelkt. Vielleicht ist es nur jemand, der das Laub zusammenharkt. Wie auch immer, wir sitzen hier nicht mit Skimasken und Handschuhen herum. Wir tun nichts Verbotenes.«
»Noch nicht.«
»Na ja, benimm dich einfach nicht zu auffällig.«
Wir sind nur zu zweit. Nachdem wir auf diese Idee gekommen waren, haben wir beschlossen, dass Carmel für uns spionieren muss. Sie ist zur Schule gegangen und soll sich vergewissern, dass Will dort ist. Sie hat uns auch erklärt, seine Eltern gingen lange bevor er zur Schule muss aus dem Haus.
Carmel hat eingewandt, wir seien sexistisch, und sie sollte dabei sein, falls etwas schiefginge, weil sie doch wenigstens einen annähernd plausiblen Grund hat, das Haus zu betreten. Thomas wollte nichts davon wissen. Er wollte sie schützen, aber wenn ich jetzt sehe, wie er an der Unterlippe nagt und bei jeder winzigen Bewegung zusammenzuckt, vermute ich, ich wäre mit Carmel besser dran gewesen. Als mein Handy vibriert, zuckt er zusammen wie eine erschrockene Katze.
»Es ist Carmel«, sage ich und gehe dran.
»Er ist nicht da«, flüstert sie panisch.
»Was?«
»Keiner von ihnen ist in der Schule. Chase ist auch nicht da.«
»Was?«, frage ich noch einmal, obwohl ich es genau gehört habe. Thomas zupft mich am Ärmel wie ein aufgeregter Erstklässler. »Sie sind nicht in die Schule gegangen«, fertige ich ihn ab.
Thunder Bay muss verflucht sein. In dieser dummen Stadt läuft überhaupt nichts richtig. Jetzt habe ich die besorgte Carmel in einem Ohr, während Thomas mich auf der anderen Seite nervt. Es sind einfach viel
zu viele Leute in diesem Auto, und ich kann nicht richtig nachdenken.
»Was tun wir jetzt?«, fragen sie mich gleichzeitig. Anna. Was ist mit Anna? Will hat den Athame, und wer weiß, was er sich hat einfallen lassen, wenn er Carmels kleinen Trick mit den SMS-Nachrichten durchschaut hat. Er ist klug genug, um seinerseits ein überraschendes Manöver zu versuchen, daran besteht kein Zweifel. Ich war ja selbst dumm genug, um mich von ihm reinlegen zu lassen. Vielleicht lacht er uns jetzt aus und stellt sich vor, wie wir sein Zimmer durchsuchen, während er mit meinem Dolch in der Hand und dem blonden Lakaien im Schlepptau über Annas Zufahrt spaziert.
»Fahr los«, knurre ich und beende das Gespräch mit Carmel. Wir müssen schnell zu Anna. Vielleicht ist es schon zu spät.
»Wohin?«, fragt Thomas. Er hat das Auto schon angelassen, biegt um die Ecke und fährt zu Wills Haus.
»Zu Anna.«
»Du glaubst doch nicht …«, setzt er an. »Vielleicht sind sie einfach nur zu Hause geblieben. Vielleicht gehen sie doch noch zur Schule und sind bloß spät dran.« Er redet weiter, aber als wir an Wills Haus vorbeifahren, fällt mir etwas auf. Mit den Vorhängen im ersten Stock stimmt etwas nicht. An einem Zimmer sind sie vorgezogen, obwohl alle anderen Fenster frei sind. Außerdem scheinen sie irgendwie … durcheinander zu sein. Als hätte jemand sie eilig zusammengerafft.
»Halt an«, sage ich. »Stell das Auto ab.«
»Was ist los?«, fragt Thomas. Ich blicke unverwandt zu dem Fenster im ersten Stock. Ich weiß genau, dass Will dort ist, und auf einmal bin ich fuchsteufelswild. Ich habe genug von diesem Mist. Ich gehe jetzt da rein und hole mir das Messer zurück, und Will Rosenberg soll mir dabei bloß nicht in die Quere kommen.
Ich bin schon ausgestiegen, ehe das Auto anhält. Thomas fummelt hektisch an dem Sicherheitsgurt herum. Es klingt, als fiele er halb aus der Fahrertür heraus. Dann
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