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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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erklärt Thomas mit vollem Mund. »Ich glaube, das bedeutet, du sollst
hierbleiben. Lass doch die Geister mal eine Weile in Ruhe.«
    Ich hole tief Luft. Dies ist das erste und vermutlich einzige Mal in meinem Leben, dass ich ernsthaft in Versuchung bin. Früher, bevor mein Dad starb, habe ich manchmal gedacht, es wäre doch schön, wenn er eine Pause einlegen könnte. Es wäre schön gewesen, an einem Ort zu bleiben, Freunde zu finden und mit ihm am Samstagnachmittag Baseball zu spielen, statt dass er mit einem Okkultisten telefoniert oder die Nase in ein schimmeliges altes Buch steckt. Aber dieses Gefühl haben wohl alle Kinder mit berufstätigen Eltern, nicht nur diejenigen, deren Eltern Geister jagen.
    Jetzt habe ich dieses Gefühl wieder. Es wäre schön, in diesem Haus zu bleiben. Es ist gemütlich und hat eine schöne Küche. Es wäre nett, mich mit Carmel und Thomas und mit Anna zu treffen. Wir könnten zusammen den Schulabschluss machen und vielleicht in der Nähe ein College besuchen. Es wäre fast normal. Nur ich, meine besten Freunde und mein totes Mädchen.
    Die Vorstellung ist so lächerlich, dass ich schnaube.
    »Was ist los?«, fragt Thomas.
    »Es gibt niemanden sonst, der meine Aufgabe übernehmen könnte. Selbst wenn Anna niemanden mehr tötet, gibt es andere Geister, die es tun. Ich muss das Messer zurückbekommen, und ich muss mich früher oder später wieder an die Arbeit machen.«
    Thomas sieht enttäuscht aus. Carmel räuspert sich.
    »Wie bekommen wir es denn zurück?«, fragt sie.
    »Offensichtlich ist er nicht bereit, es einfach zurückzugeben«, meint Thomas bedrückt.
    »Meine Eltern sind mit seinen Eltern befreundet«, schlägt Carmel vor. »Ich könnte sie bitten, etwas Druck auszuüben. Will hätte ein wichtiges Familienerbstück gestohlen oder so was. Das wäre nicht einmal gelogen.«
    »Ich will keine Fragen darüber beantworten, warum mein wichtiges Familienerbstück ein gefährlicher Dolch ist«, antworte ich. »Außerdem glaube ich nicht, dass der Druck der Eltern in diesem Fall ausreicht. Wir müssen es stehlen.«
    »Einbrechen und stehlen?«, fragt Thomas. »Du bist verrückt.«
    »So verrückt ist das gar nicht.« Carmel zuckt mit den Achseln. »Ich habe einen Schlüssel für sein Haus. Meine Eltern sind mit seinen befreundet. Wir haben die Schlüssel getauscht, falls sich mal jemand aussperrt oder den Schlüssel verliert, während sonst niemand zu Hause ist.«
    »Wie altmodisch«, sage ich.
    Sie schneidet eine Grimasse. »Meine Eltern haben Schlüssel für das halbe Stadtviertel. Alle wollen mit uns zu tun haben. Aber Wills Eltern sind die Einzigen, die auch von unserem Haus einen Schlüssel haben.« Wieder zuckt sie mit den Achseln. »Manchmal zahlt es sich aus, wenn einem die ganze Stadt in den Arsch kriecht. Meistens ist es bloß nervig.«
    Natürlich haben Thomas und ich keine Ahnung,
was sie meint. Wir sind mit verrückten Hexeneltern aufgewachsen. Die Leute würden um nichts in der Welt mit uns die Schlüssel tauschen.
    »Wann tun wir es?«, fragt Thomas.
    »So bald wie möglich«, antworte ich. »Irgendwann, wenn niemand da ist. Tagsüber. Morgens, nachdem er in die Schule gefahren ist.«
    »Wahrscheinlich nimmt er das Messer mit«, gibt Thomas zu bedenken.
    Carmel zückt ihr Handy. »Ich setze ein Gerücht in Umlauf, dass er ein Messer in die Schule mitbringt, und dass jemand ihn melden sollte. Er wird früh genug davon hören und es zu Hause lassen.«
    »Hoffentlich beschließt er nicht, auch selbst zu Hause zu bleiben.«
    Ich sehe ihn schief an. »Hast du schon mal was von einem gewissen ungläubigen Thomas gehört?«
    »Passt nicht«, antwortet er aalglatt. »Das bezieht sich auf jemanden, der skeptisch ist. Ich bin nicht skeptisch, ich bin pessimistisch.«
    »Thomas«, gurrt Carmel, »ich wusste noch gar nicht, dass du so schlagfertig bist.« Fieberhaft tippt sie auf dem Handy herum. Sie hat schon drei Nachrichten abgeschickt und zwei zurückbekommen.
    »Das reicht, ihr beiden«, sage ich. »Wir machen es morgen früh. Dabei werden wir aber wohl die erste und die zweite Stunde versäumen.«
    »Das macht nichts«, antwortet Carmel. »Heute waren wir ja die ersten beiden Stunden da.«
     
    Am nächsten Morgen hocke ich mit Thomas in seinem Tempo. Wir stehen ein Stück von Wills Haus entfernt an einer Ecke. Die Köpfe haben wir in den Kapuzen der Sweatshirts versteckt, unsere Blicke wandern unstet hin und her. Wir sehen genauso aus, wie man es von jemandem erwartet, der

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