Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
höre ich seine tollpatschigen Schritte hinter mir, und er stellt mir eine Million Fragen.
»Was tun wir jetzt? Was hast du vor?«
»Ich hole mir das Messer zurück«, antworte ich. Wir laufen rasch über die Zufahrt und springen die Verandatreppe hinauf. Ich stoße Thomas’ Hand weg, als er klopfen will, und benutze den Schlüssel. Ich bin gerade in der richtigen Stimmung und habe keine Lust, Will früher zu warnen als unbedingt nötig. Er soll nur versuchen, mir das Messer vorzuenthalten. Er soll es nur versuchen. Aber Thomas hält meine Hand fest.
»Was ist?«, fauche ich.
»Zieh wenigstens die hier an.« Er hält mir ein Paar Handschuhe hin. Ich will ihm sagen, dass wir keine Einbrecher sind, aber es ist einfacher, sie anzuziehen, als mit ihm zu diskutieren. Er zieht auch selbst ein Paar an, dann drehe ich den Schlüssel im Schloss herum und öffne die Tür.
Das einzig Gute daran, dass wir das Haus betreten,
ist die Tatsache, dass wir leise sein müssen. Thomas kann mich nicht mehr mit Fragen bombardieren. Das Herz pocht heftig hinter meinen Rippen, leise, aber beharrlich. Meine Muskeln sind angespannt und zucken. Wenn ich einem Geist auflauere, fühle ich mich ganz anders. Stark und sicher. Jetzt komme ich mir vor wie ein Fünfjähriger, der nach Einbruch der Dunkelheit in einem Irrgarten steckt.
Das Haus ist nett eingerichtet, Hartholzboden und dicke Teppiche. Das Geländer der Treppe, die nach oben führt, glänzt, als sei es nach dem Einbau jeden Tag mit Politur behandelt worden. Die Bilder an den Wänden sind Originale, aber nicht das verrückte moderne Zeug – Sie wissen schon, diese Sachen, wo ein dürrer New Yorker Trottel einen anderen dürren New Yorker Trottel zum Genie erklärt, weil er »wirklich krasse rote Quadrate« gemalt habe. Hier hängen Klassiker aus Frankreich – Flusslandschaften und kleine, schattige Porträts von Frauen in zarten Spitzenkleidern. Normalerweise würde ich mir gern Zeit nehmen, sie genauer zu betrachten. Gideon hat mich in London im Victoria and Albert Museum gelehrt, Kunst zu schätzen.
Stattdessen flüstere ich Thomas zu: »Lass uns das Messer holen und verschwinden.«
Ich gehe als Erster die Treppe hinauf und biege oben nach links zu dem Zimmer ab, dessen Vorhänge vorgezogen sind. Mir fällt ein, dass ich auch völlig falschliegen könnte. Vielleicht ist es gar kein Schlafzimmer, sondern ein Lagerraum, ein Spielzimmer oder ein anderer
Raum, dessen Vorhänge aus gutem Grund vorgezogen sind. Dafür ist jetzt jedoch keine Zeit mehr. Ich stehe vor der geschlossenen Tür.
Der Griff lässt sich leicht drehen, als ich es probiere, und die Tür geht ein Stück weit auf. Drinnen ist es zu dunkel, um viel zu sehen. Immerhin erkenne ich ein Bett und so etwas wie eine Kommode. Der Raum ist leer. Thomas und ich huschen hinein wie professionelle Einbrecher. So weit, so gut. Ich taste mich bis zum Zentrum des Raumes vor und blinzele, um mich auf das Zwielicht einzustellen.
»Vielleicht sollten wir einfach das Licht einschalten«, schlägt Thomas flüsternd vor.
»Ja, von mir aus«, antworte ich abwesend. Inzwischen kann ich etwas besser sehen, und was ich sehe, gefällt mir nicht.
Die Schubladen der Kommode stehen offen. Kleider liegen in wirren Haufen umher, als habe jemand sie eilig durchsucht. Sogar das Bett steht seltsam, als wäre es von der Wand abgerückt worden.
Ich drehe mich um und stelle fest, dass eine Schranktür offen ist, und daneben ist ein Poster halb heruntergerissen.
»Hier war schon jemand«, sagt Thomas. Er flüstert nicht mehr.
Mir fällt auf, dass ich schwitze. Ohne den Handschuh auszuziehen, wische ich mir mit dem Handrücken die Stirn ab. Das ist doch alles völlig unsinnig. Wer sollte vor uns hier gewesen sein? Vielleicht hat Will noch andere Feinde, aber dies wäre schon ein sehr seltsamer
Zufall. Andererseits haben seltsame Zufälle gerade Hochkonjunktur.
Im Dunklen entdecke ich an der Wand neben dem Poster Linien, die an handgeschriebene Buchstaben erinnern. Als ich näher trete, stoße ich mit dem Fuß gegen etwas, das mir bekannt vorkommt. Ich weiß es, noch ehe ich Thomas sage, er solle endlich das Licht einschalten. Als es hell wird, bin ich schon auf dem Weg nach draußen. Jetzt können wir sehen, was uns im Dunkeln umgeben hat.
Sie sind beide tot. Ich bin mit dem Fuß gegen Chases Oberschenkel gestoßen, oder gegen das, was davon noch übrig ist. Was ich für Schriftzeichen an der Wand gehalten habe, sind lange, dicke
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