Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Blutspuren. Arterielles Blut ist in großen Bögen an die Wand gespritzt worden und dort geronnen. Thomas hat von hinten mein Hemd gepackt und stößt kurze, panische Laute aus. Sanft befreie ich mich von ihm. Meine Gedanken sind nüchtern und analytisch. Der Instinkt, die Sache zu erforschen, ist stärker als der Fluchttrieb.
Wills Leichnam ist hinter das Bett gerutscht. Er liegt auf dem Rücken, die Augen sind geöffnet. Ein Auge ist rot. Zuerst denke ich, die Blutgefäße seien geplatzt, aber bei dem Blut handelt es sich um Spritzer von einer Wunde. Das Zimmer ist völlig demoliert. Bettlaken und Decken sind heruntergerissen und liegen verknüllt auf Wills Arm. Er trägt etwas, das ich für einen Schlafanzug halte, eine einfache Flanellhose und ein T-Shirt. Chase war voll bekleidet. Ich betrachte die Szene mit den Augen eines Ermittlers, der die
Eindrücke zu ordnen weiß und sich alles einprägt, um mich nicht von dem beeindrucken zu lassen, was ich in dem Moment gesehen habe, als das Licht anging.
Die Wunden. Die Toten haben beide helle, rote Wunden, aus denen es immer noch tropft. Große, zerfetzte Halbmonde, wo Muskeln und Knochen fehlen. Diese Wunden würde ich überall erkennen, obwohl ich sie bisher nur in der Fantasie gesehen habe. Es sind Bisswunden.
Etwas hat die beiden angefressen.
Genau wie meinen Vater.
»Cas!«, ruft Thomas. Dem Klang seiner Stimme entnehme ich, dass er mich schon einige Male vergeblich gerufen hat. »Wir müssen hier verschwinden!«
Ich stehe wie angewurzelt da und bin völlig gebannt. Dann umschlingt er meinen Oberkörper, sodass ich meine Arme nicht mehr bewegen kann, und zerrt mich hinaus. Erst als er das Licht ausschaltet und die Szene im Dunkeln verschwindet, schüttele ich ihn ab und beginne zu rennen.
»Was machen wir jetzt?«
Thomas stellt die Frage immer wieder. Carmel hat schon zweimal angerufen, aber ich bin nicht drangegangen. Was wir jetzt tun sollen? Keine Ahnung. Ich sitze still auf dem Beifahrersitz, während Thomas aufs Geratewohl umherfährt. So etwas nennt man wohl Katatonie. Ich habe keine Panikattacken, ich plane nicht und bewerte das Geschehene nicht. Es gibt nur einen einzigen Gedanken, der sich in einem sanften Rhythmus unablässig wiederholt. Es ist hier. Es ist hier.
Mit einem Ohr höre ich Thomas reden. Er telefoniert mit jemandem und erklärt, was wir gefunden haben. Es ist vermutlich Carmel. Anscheinend hat sie es bei mir aufgegeben und es bei ihm versucht, weil sie wusste, dass er sich melden würde.
»Ich weiß es nicht«, sagt er. »Ich glaube, er flippt aus. Er steht völlig neben sich.«
Mein Gesicht zuckt, als wollte es reagieren und widersprechen, aber es fühlt sich träge und taub an, wie nach einer Betäubung beim Zahnarzt. Langsam
tröpfeln mir neue Gedanken ins Gehirn. Will und Chase sind tot. Das Wesen, das meinen Vater gefressen hat. Thomas fährt ins Nirgendwo.
Die Gedanken bleiben unabhängig voneinander, keiner kommt mir irgendwie sinnvoll vor. Wenigstens habe ich keine Angst. Dann tröpfelt es auf einmal schneller, Thomas ruft meinen Namen und knufft mich am Arm, und endlich komme ich wieder in Gang.
»Bring mich zu Anna«, verlange ich. Er ist erleichtert. Wenigstens habe ich etwas gesagt und eine Entscheidung getroffen. Eine Anweisung erteilt.
»Wir erledigen das«, höre ich ihn ins Telefon sagen. »Ja, wir fahren jetzt hin. Komm auch hin. Aber geh nicht rein, wenn wir noch nicht da sind.«
Er hat mich missverstanden. Wie soll ich es erklären? Er weiß nicht, wie mein Vater gestorben ist. Er weiß nicht, was dies bedeutet – dass es mich schließlich eingeholt hat. Irgendwie hat es mich gefunden. Ausgerechnet jetzt, da ich praktisch wehrlos bin. Und ich wusste nicht einmal, dass es nach mir gesucht hat. Beinahe muss ich lächeln. Das Schicksal ist ein großer Witz.
Die Kilometer fliegen dahin, Thomas plappert irgendetwas, das mich aufmuntern soll. Dann biegt er in Annas Zufahrt ein und steigt aus. Meine Tür öffnet sich ein paar Sekunden später. Er zerrt mich am Arm heraus.
»Komm schon, Cas.« Ich sehe ihn ernst an. »Bist du bereit?«, fragt er. »Was willst du tun?«
Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Allmählich
verliert der Schockzustand seinen Reiz. Ich will meinen Verstand zurückhaben. Kann ich die Benommenheit nicht einfach abschütteln wie ein nasser Hund die Wassertropfen und mich wieder an die Arbeit machen?
Unsere Füße knirschen auf dem kalten Kies. Mein Atem steht als helle kleine
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