Anna Karenina
ins Leben
tritt. Das ist doch nicht zu leugnen: eine hochwichtige Tätigkeit! Es wird dabei besonderer Wert auf eine ehrliche Geschäftsführung gelegt«, sagte Stepan Arkadjewitsch mit starker Betonung des
Eigenschaftswortes.
Aber Alexei Alexandrowitsch kannte die Moskauer Bedeutung des Wortes »ehrlich« nicht.
»Die Ehrlichkeit ist nur eine negative Eigenschaft«, erwiderte er.
»Aber du würdest mir doch einen großen Gefallen tun«, sagte Stepan Arkadjewitsch, »wenn du bei Pomorski ein
gutes Wort für mich einlegen wolltest. Nur so gelegentlich, gesprächsweise ...«
»Ich möchte übrigens meinen, daß das mehr von Bolgarinow abhängt«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch.
»Bolgarinow ist seinerseits vollständig einverstanden«, versetzte Stepan Arkadjewitsch errötend.
Stepan Arkadjewitsch errötete bei der Erwähnung Bolgarinows, weil er am Vormittage dieses Tages bei dem Juden
Bolgarinow gewesen war und dieser Besuch ihm eine unangenehme Erinnerung hinterlassen hatte.
Stepan Arkadjewitsch glaubte fest, daß das Institut, dem er seine Dienste widmen wollte, ein neues,
hochwichtiges, ehrliches Institut sei; aber als ihn heute morgen Bolgarinow offenbar absichtlich zwei Stunden lang
mit anderen Bittstellern im Wartezimmer hatte sitzen lassen, da war ihm die Sache auf einmal unbehaglich
geworden.
Ob es ihm nun unbehaglich gewesen war, daß er, Fürst Oblonski, ein Nachkomme Ruriks, zwei Stunden lang in dem
Wartezimmer eines Juden warten mußte, oder daß er zum erstenmal in seinem Leben dem Vorbilde seiner Ahnen, nur dem
Staate zu dienen, untreu wurde und eine andere Laufbahn einschlug: unbehaglich war es ihm jedenfalls gewesen, sehr
unbehaglich. Während dieser zweistündigen Wartezeit bei Bolgarinow hatte Stepan Arkadjewitsch große Anstrengungen
gemacht, das unangenehme Gefühl, das er empfand, vor anderen, ja vor sich selbst zu verbergen: er war munteren
Schrittes, seinen Backenbart zurechtstreichend, im Wartezimmer auf und ab gegangen, hatte sich mit anderen
Bittstellern in Gespräche eingelassen und über einen Wortwitz nachgedacht, den er demnächst über sein Warten bei
einem Juden an geeigneter Stelle vorbringen wollte.
Aber doch war ihm diese ganze Zeit über unbehaglich zumute gewesen, und er hatte sich geärgert, ohne selbst
recht zu wissen warum: ob deshalb, weil er mit dem Wortwitz nicht ordentlich zurechtkommen konnte oder aus
irgendeinem anderen Grunde. Nachdem ihn dann Bolgarinow endlich empfangen hatte, äußerlich mit ganz besonderer
Höflichkeit, aber innerlich offenbar über die dem vornehmen Besucher angetane Demütigung triumphierend, und ihm
eigentlich, wenn man's genauer ansah, eine abschlägige Antwort erteilt hatte, da hatte sich Stepan Arkadjewitsch
beeilt, den unangenehmen Vorfall möglichst schnell zu vergessen. Jetzt aber, wo er wieder daran denken mußte,
errötete er.
18
»Und nun habe ich da noch eine Angelegenheit; du weißt schon, worum es sich handelt ... um Anna«, sagte Stepan
Arkadjewitsch, nachdem er ein Weilchen geschwiegen und diese unangenehme Erinnerung von sich abgeschüttelt
hatte.
Kaum hatte Oblonski Annas Namen ausgesprochen, als Alexei Alexandrowitschs Gesicht sich vollständig veränderte:
an die Stelle der bisherigen Lebhaftigkeit trat ein Ausdruck der Ermüdung und eine leichenartige Starrheit.
»Was wünschen Sie eigentlich von mir?« fragte er, indem er sich auf dem Sessel hin und her drehte und seinen
Klemmer zusammenlegte.
»Eine Entscheidung, irgendeine Entscheidung, Alexei Alexandrowitsch. Ich wende mich jetzt an dich« (Stepan
Arkadjewitsch hatte eigentlich fortfahren wollen: »nicht als den beleidigten Gatten«, aber da er befürchtete,
dadurch die ganze Sache zu verderben, so ersetzte er dies durch eine andere Wendung), »nicht in deiner Eigenschaft
als Staatsmann« (was gar nicht hinpaßte), »sondern einfach in deiner Eigenschaft als Mensch und als guter Mensch
und als Christ. Du mußt Mitleid mit ihr haben.«
»Was soll das heißen? Inwiefern denn eigentlich?« fragte Karenin leise.
»Ja, du mußt Mitleid mit ihr haben. Wenn du sie gesehen hättest, wie ich sie gesehen habe (ich habe den ganzen
Winter mit ihr zusammen verlebt), so würdest du dich ihrer erbarmen. Ihre Lage ist furchtbar, geradezu
furchtbar.«
»Ich habe gemeint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch mit noch höherer, beinah kreischender Stimme, »Anna
Arkadjewna hätte jetzt alles, was sie sich selbst wünschte.«
»Ach, Alexei
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