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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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geworden und gewachsen und ist nun kein Kind mehr, sondern ein richtiger Junge; das freut mich
    recht«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Erinnerst du dich denn noch an mich?«
    Der Knabe blickte schnell nach dem Vater.
    »Ja, ich erinnere mich, mon oncle«, antwortete er. Er sah dabei seinen Onkel an, senkte dann aber sogleich
    wieder seinen Blick auf den Fußboden.
    Der Onkel rief den Knaben zu sich heran und faßte ihn an der Hand.
    »Nun, wie steht es? Wie geht es dir?« fragte er. Er hätte gern mit ihm ein Gespräch angeknüpft, wußte aber nicht
    recht, was er sagen sollte.
    Der Knabe errötete und zog, ohne zu antworten, sachte seine Hand aus der des Onkels. Sobald Stepan Arkadjewitsch
    seine Hand losgelassen hatte, richtete er einen fragenden Blick auf seinen Vater und eilte dann wie ein
    freigelassener Vogel schnellen Schrittes aus dem Zimmer.
    Ein Jahr war vergangen, seit Sergei seine Mutter zum letzten Male gesehen hatte. Seitdem hatte er nie mehr etwas
    über sie gehört. Und im Laufe dieses Jahres war er in die Schule eingetreten und hatte Kameraden kennengelernt und
    sich mit ihnen befreundet. Jene sehnsüchtigen Gedanken und Erinnerungen an die Mutter, die ihn nach dem Wiedersehen
    mit ihr auf das Krankenlager geworfen hatten, beschäftigten ihn jetzt nicht mehr, und wenn sie doch einmal wieder
    bei ihm auftauchten, so bemühte er sich, sie zu verscheuchen, da er sich ihrer schämte und meinte, dergleichen
    schicke sich nur für Mädchen, aber nicht für einen Knaben, der in die Schule gehe. Er wußte, daß sein Vater und
    seine Mutter einen Streit miteinander gehabt und sich infolgedessen getrennt hatten, und wußte auch, daß über ihn
    bestimmt war, er solle bei dem Vater bleiben, und suchte sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
    Als er den Onkel, der seiner Mutter im Gesicht ähnlich war, erblickt hatte, da war ihm dies unangenehm gewesen,
    weil dadurch bei ihm eben jene Erinnerungen wieder wachgerufen wurden, deren er sich schämen zu müssen glaubte. Und
    dieses unangenehme Gefühl war noch dadurch gesteigert worden, daß er aus einigen Worten, die er, an der Tür des
    Arbeitszimmers wartend, gehört hatte, und namentlich aus dem Gesichtsausdruck seines Vaters und seines Onkels
    gemerkt hatte, daß zwischen ihnen von der Mutter die Rede sei. Um nun seinem Vater, mit dem er zusammen lebte und
    von dem er abhing, nicht unrecht geben zu müssen, und besonders, um sich nicht jenem Gefühl zu überlassen, das er
    seiner für so wenig würdig hielt, hatte Sergei sich bemüht, diesen Onkel, der gekommen war, um seine Ruhe zu
    stören, nicht anzusehen und nicht an das zu denken, woran er durch ihn erinnert wurde.
    Aber als Stepan Arkadjewitsch, der gleich nach ihm das Zimmer verlassen und ihn auf der Treppe erblickt hatte,
    ihn zu sich heranrief und fragte, was er in der Schule in der Zeit zwischen den Unterrichtsstunden mache, da wurde
    Sergei, auch weil der Vater nicht dabei war, gesprächiger.
    »Wir spielen jetzt immer Eisenbahn«, antwortete er auf seine Frage. »Sehen Sie, das wird so gemacht: zwei setzen
    sich auf eine Bank. Das sind die Reisenden. Und einer steht auf der Bank, auf der die sitzen. Und alle anderen
    spannen sich davor, manche mit den Gürteln, manche auch nur mit den Händen, und dann geht es durch alle Säle. Die
    Türen machen wir schon vorher auf. Na, aber dabei Schaffner zu sein, das ist nicht leicht!«
    »Das ist wohl der, der steht?« fragte Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
    »Ja, da muß man Mut haben und geschickt sein, besonders wenn der Zug auf einmal hält oder einer hinfällt.«
    »Ja, das ist keine Kleinigkeit«, sagte Stepan Arkadjewitsch und schaute traurig in diese lebhaften Augen, die
    der Knabe von der Mutter hatte und die nun nicht mehr rein kindlich, nicht mehr ganz unschuldsvoll blickten. Und
    obwohl er seinem Schwager versprochen hatte, nicht von Anna zu reden, so konnte er sich doch nicht überwinden.
    »Denkst du noch an deine Mutter?« fragte er unvermittelt.
    »Nein, ich denke nicht an sie«, murmelte Sergei hastig, wurde dunkelrot und schlug die Augen nieder. Und nun
    konnte der Onkel nichts mehr aus ihm herausbringen.
    Eine halbe Stunde darauf fand der russische Hofmeister seinen Zögling noch immer auf der Treppe und konnte lange
    nicht daraus klug werden, ob er ergrimmt sei oder weine.
    »Nun? Sie haben sich gewiß in der Schule beim Hinfallen weh getan?« sagte der Hofmeister. »Ich habe es ja immer
    gesagt, daß das ein gefährliches Spiel ist. Man

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