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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ist.«
    »Nein, Alexei Alexandrowitsch«, rief Oblonski aufspringend, »das will ich nicht glauben! Sie ist so tief
    unglücklich, wie es eine Frau überhaupt sein kann, und du kannst ihr eine solche Bitte nicht abschlagen.«
    »Soweit die Erfüllung meines Versprechens möglich ist. Vous professez d'être un libre penseur. 2 Aber ich als gläubiger Mensch kann in einer so wichtigen Sache
    nicht gegen das christliche Gebot handeln.«
    »Aber in der Christenheit und auch bei uns, soviel ich weiß, ist doch die Scheidung gestattet«, antwortete
    Stepan Arkadjewitsch. »Auch unsere Kirche gestattet die Scheidung. Und wir sehen ...«
    »Gestattet ist sie; aber nicht in diesem Sinne.«
    »Alexei Alexandrowitsch, ich erkenne dich gar nicht wieder«, begann Oblonski nach einer kurzen Pause von neuem.
    »Hast du denn nicht (wir haben dich ja doch deswegen dankbar bewundert) alles verziehen, und warst du nicht, gerade
    von deinem christlichen Gefühle getrieben, bereit, jedes Opfer zu bringen? Du hast ja selbst gesagt, du wolltest
    auch den Rock hingeben, wenn man dir den Mantel nehme, und nun ...«
    »Ich bitte Sie«, sagte Alexei Alexandrowitsch, plötzlich aufstehend, mit zitternder Kinnlade und dünner,
    pfeifender Stimme, »ich bitte Sie, dieses Gespräch ... dieses Gespräch abzubrechen.«
    »Oh, oh! Nun, verzeih mir, verzeih mir, wenn ich dir weh getan habe«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem
    verlegenen Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Aber ich habe doch nur als Abgesandter meinen Auftrag
    ausgerichtet.«
    Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, dachte ein Weilchen nach und sagte dann:
    »Ich muß es überlegen und nach einem Zeichen suchen. Übermorgen werde ich Ihnen meine endgültige Antwort geben«,
    fügte er hinzu; es schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein.
Fußnoten
    1 (frz.) Ihre Bedenken.
    2 (frz.) Sie bekennen offen, ein
    Freidenker zu sein.

19
    Stepan Arkadjewitsch war eben im Begriff wegzugehen, als Kornei hereinkam und meldete:
    »Sergei Alexejewitsch!«
    ›Wer ist das, Sergei Alexejewitsch?‹ wollte Stepan Arkadjewitsch schon fragen, besann sich jedoch noch
    rechtzeitig.
    »Ach, der kleine Sergei!« rief er. Und bei sich dachte er: ›Also der heißt jetzt Sergei Alexejewitsch. Und ich
    glaubte, es wäre der Subdirektor.‹ Und zugleich fiel ihm ein: ›Anna hat mich ja gebeten, ihn mir anzusehen, was er
    macht und wie es ihm geht.‹
    Und er erinnerte sich an den schüchternen, mitleiderregenden Gesichtsausdruck, mit dem sie ihm beim Abschied
    gesagt hatte: »Du wirst ihn ja doch zu sehen bekommen. Bringe genau in Erfahrung, wo er lebt und wer um ihn ist.
    Und, Stiwa ... wenn es möglich wäre! Sollte es nicht möglich sein?« Stepan Arkadjewitsch hatte verstanden, was
    dieses »wenn es möglich wäre« bedeutete: wenn es möglich wäre, die Scheidung in der Weise zustande zu bringen, daß
    der Sohn ihr überlassen würde ... Aber jetzt sah Stepan Arkadjewitsch ein, daß daran überhaupt nicht zu denken sei.
    Indessen freute er sich trotzdem, seinen Neffen wiederzusehen.
    Alexei Alexandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß mit dem Sohne niemals von der Mutter
    gesprochen werde, und ersuchte ihn, ihrer mit keinem Worte Erwähnung zu tun.
    »Er ist nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, das wir nicht hatten vorhersehen können, sehr krank gewesen«,
    sagte Alexei Alexandrowitsch. »Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige ärztliche Behandlung und
    Seebäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf den Rat des Arztes auf die
    Schule gegeben. In der Tat hat der Umgang mit gleichaltrigen Kameraden auf ihn günstig gewirkt, und er ist jetzt
    völlig gesund und lernt gut.«
    »Das ist aber ein strammer Kerl geworden! Nicht mehr der kleine Sergei, sondern ein großer Sergei
    Alexejewitsch!« sagte Stepan Arkadjewitsch lächelnd, während er den munter und ungezwungen eintretenden hübschen,
    breitschulterigen Knaben in dunkelblauer Jacke und langer Hose betrachtete. Der Knabe sah gesund und vergnügt aus.
    Er verbeugte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden; als er ihn aber dann erkannt hatte, errötete er und wendete
    sich eilig von ihm ab, als hätte ihn etwas gekränkt und geärgert. Dann trat er zu seinem Vater und reichte ihm
    einen Zettel mit den Zensuren, die er in der Schule erhalten hatte.
    »Nun, das ist ja recht erfreulich«, sagte der Vater. »Du kannst wieder gehen.«
    »Er ist magerer

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