Anna Karenina
überhaupt erreiche«, sagte sie errötend. »Es lag gar kein Anlaß vor, mir das Telegramm zu verheimlichen.« Und
im stillen sagte sie sich: ›Ebenso kann er auch seine Briefe von anderen Frauen vor mir verheimlichen, und das tut
er auch gewiß.‹
»Jaschwin wollte heute vormittag mit Woitow herkommen«, sagte Wronski. »Er scheint diesem Pjewzow im Spiel sein
ganzes Vermögen abgewonnen zu haben, sogar mehr, als der überhaupt bezahlen kann, gegen sechzigtausend Rubel.«
»Nein«, sagte sie, gereizt dadurch, daß er durch diesen Wechsel des Gesprächsgegenstandes in so offensichtlicher
Weise zeigte, daß er sie für gereizt halte und sie schonend behandeln wolle, »warum meinst du denn, diese Nachricht
werde mich so aufregen, daß sie mir verheimlicht werden müßte? Ich habe gesagt, daß ich gar nicht daran denken
will, und es wäre mir lieb, wenn du dich ebensowenig darüber aufregtest wie ich.«
»Mir ist die Sache wichtig, weil ich ein Freund klarer Verhältnisse bin«, antwortete er.
»Klarheit ist in der äußeren Form nicht so wesentlich wie in der Liebe«, erwiderte sie; sie geriet immer mehr
und mehr in eine gereizte Stimmung, nicht infolge seiner Worte, sondern infolge des kühlen, ruhigen Tones, in dem
er sprach. »Weshalb wünschst du das?«
›Mein Gott! Schon wieder die Liebe!‹ dachte er und runzelte die Stirn.
»Du weißt ja, weshalb: um deinetwillen und um der Kinder willen, die wir bekommen werden«, antwortete er.
»Wir werden keine Kinder mehr bekommen.«
»Das wäre sehr schade«, erwiderte er.
»Du wünschst das um der Kinder willen; aber an mich denkst du nicht?« sagte sie. Sie hatte ganz vergessen oder
überhaupt nicht gehört, daß er gesagt hatte: » um deinetwillen und um der Kinder willen.«
Die Frage, ob sie noch mehr Kinder bekommen könnten und sollten, war schon seit längerer Zeit für die beiden ein
Anlaß zu Streit, und Anna geriet bei solchen Gesprächen stets in Erregung. Seinen Wunsch, Kinder zu haben, faßte
sie in dem Sinne auf, daß er auf ihre Schönheit nicht den gebührenden Wert lege.
»Aber ich habe ja doch gesagt: um deinetwillen. In erster Linie um deinetwillen«, antwortete er und zog, wie
infolge eines körperlichen Schmerzes, die Stirn kraus. »Denn nach meiner Überzeugung rührt deine Reizbarkeit zum
großen Teil von der Unbestimmtheit deiner Lage her.«
›Aha, jetzt hat er aufgehört, sich zu verstellen, und sein ganzer kalter Haß gegen mich kommt zum Vor schein‹,
dachte sie, indem sie gar nicht auf seine Worte hörte, sondern mit Schrecken nach dem kalten, grausamen Richter
schaute, der mit dem Ausdruck des Spottes, wie sie meinte, aus seinen Augen blickte.
»Die Ursache ist eine andere«, erwiderte sie, »und ich verstehe gar nicht einmal, wie die Ursache meiner, wie du
es nennst, Reizbarkeit darin liegen könnte, daß ich mich vollständig in deiner Gewalt befinde. Inwiefern wäre denn
da meine Lage unbestimmt? Im Gegenteil.«
»Es tut mir sehr leid, daß du mich nicht verstehen willst«, unterbrach er sie in dem hartnäckigen Wunsche,
seinen Gedanken klar auszusprechen. »Die Unbestimmtheit besteht darin, daß du meinst, ich wäre frei.«
»In dieser Hinsicht kannst du völlig beruhigt sein«, antwortete sie, wandte sich von ihm ab und begann ihren
Kaffee zu trinken.
Sie hob die Tasse in die Höhe, wobei sie den kleinen Finger abspreizte, und führte sie zum Munde. Als sie einige
Schlucke abgetrunken hatte, blickte sie ihn an und merkte an seiner Miene deutlich, daß ihm ihre Handhaltung und
das Geräusch, das ihre Lippen hervorbrachten, widerwärtig waren.
»Es ist mir vollständig gleichgültig, was deine Mutter denkt und mit wem sie dich verheiraten will«, sagte sie
und stellte die Tasse mit zitternder Hand hin.
»Aber davon wollen wir nicht reden.«
»Doch, gerade davon. Und du kannst mir glauben, daß ich für eine Frau ohne Herz, mag sie nun alt oder jung,
deine Mutter oder eine Fremde sein, kein Interesse habe und sie nicht kennen will.«
»Anna, ich bitte dich, von meiner Mutter nicht ohne Achtung zu reden.«
»Eine Frau, die in ihrem Herzen keine Empfindung dafür hat, worin das Lebensglück und die Ehre ihres Sohnes
besteht, besitzt kein Herz.«
»Ich wiederhole meine Bitte: sprich nicht respektlos von meiner Mutter, die ich hochachte«, sagte er, indem er
die Stimme erhob und sie mit einem strengen Blick ansah.
Sie antwortete nicht. Die Augen starr auf ihn, auf sein Gesicht, auf seine
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