Anna Karenina
Anna?« fragte er.
»Ich habe nichts gesagt«, antwortete sie ebenso kalt und ruhig wie vorher.
›Nun, wenn du nichts gesagt hast, dann um so schlimmer‹, dachte er, wieder kühl werdend, wandte sich um und ging
weg. Beim Hinausgehen erblickte er im Spiegel ihr blasses Gesicht mit den zitternden Lippen. Er wollte
stehenbleiben und ein tröstendes Wort zu ihr sagen; aber seine Füße hatten ihn aus dem Zimmer getragen, ehe er noch
etwas hatte ausfindig machen können, was er ihr sagen konnte. Diesen ganzen Tag verlebte er außer dem Hause, und
als er spät abends heimkehrte, meldete ihm das Mädchen, Anna Arkadjewna habe Kopfschmerzen und lasse ihn bitten,
nicht zu ihr zu kommen.
26
Noch nie hatte bei ihnen ein Streit einen ganzen Tag gedauert. Heute war dies zum ersten Male geschehen. Und das
war nicht ein bloßer Streit gewesen, sondern ein offenes Bekenntnis völliger Erkaltung. Wie hatte er nur, fragte
sich Anna, es fertigbringen können, sie so anzublicken, wie er sie angeblickt hatte, als er ins Zimmer gekommen
war, um den Stammbaum zu holen? Sie anzublicken, zu sehen, daß ihr das Herz vor Verzweiflung brach, und schweigend
mit diesem gleichmütigen, ruhigen Gesicht hinauszugehen? Er war nicht nur kalt gegen sie, sondern er haßte sie,
weil er eine andere Frau liebte; das war sonnenklar, dachte Anna.
Und während sie sich alle die grausamen Worte ins Gedächtnis zurückrief, die er gesagt hatte, dachte sie sich
dazu noch Worte aus, die er offenbar hatte sagen wollen und zu sagen fähig gewesen war, und geriet immer mehr und
mehr in Erregung.
›Ich halte Sie nicht‹, hätte er sagen können. ›Sie können gehen, wohin Sie wollen. Sie haben sich von Ihrem
Manne wahrscheinlich deswegen nicht scheiden lassen wollen, um nötigenfalls zu ihm zurückkehren zu können. Nun,
kehren Sie also zu ihm zurück! Wenn Sie Geld brauchen, will ich Ihnen welches geben. Wieviel Rubel brauchen
Sie?‹
Die grausamsten Worte, die ein roher Mensch nur überhaupt hätte sagen können, ließ sie ihn in ihrer Einbildung
zu ihr sagen und verzieh sie ihm nicht, wie wenn er sie wirklich gesagt hätte.
›Aber hat er mir nicht erst gestern noch seine Liebe beteuert? Und er ist doch ein wahrheitsliebender,
ehrenhafter Mann. Habe ich mich nicht schon oft unnötigerweise der Verzweiflung überlassen?‹ sagte sie sich
trotzdem bald darauf.
Diesen ganzen Tag, mit Ausnahme einer zwei Stunden in Anspruch nehmenden Fahrt zu der Schneiderin Wilson,
verbrachte Anna in Zweifeln, ob alles zu Ende sei oder noch Hoffnung auf eine Aussöhnung bestehe, und ob sie sofort
wegfahren oder noch einmal mit ihm sprechen solle. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn, und als sie am Abend auf ihr
Zimmer ging und Befehl gab, ihm zu melden, daß sie Kopfschmerzen habe, suchte sie in folgender Weise ins klare zu
kommen: ›Wenn er trotz der Meldung des Mädchens kommt, so bedeutet das, daß er mich noch liebt. Kommt er nicht, so
bedeutet das, daß alles zu Ende ist, und dann werde ich mich entscheiden, was ich zu tun habe! ...‹
Sie hörte am Abend das Geräusch, als sein Wagen vorfuhr und hielt, sein Klingeln, seine Schritte, und wie er mit
dem Mädchen sprach. Er glaubte, was ihm gemeldet wurde, fühlte kein Bedürfnis, noch Weiteres in Erfahrung zu
bringen, und begab sich auf sein Zimmer. Folglich war alles zu Ende.
Klar und deutlich stand ihr der Tod als das einzige Mittel vor Augen, um in seinem Herzen die Liebe zu ihr
wieder zu erwecken, ihn zu bestrafen und den Sieg in dem Kampfe zu behaupten, den sie oder vielmehr der in ihrem
Herzen hausende böse Geist mit diesem Manne führte.
Jetzt war es ganz gleich, ob sie nach Wosdwischenskoje fuhr oder nicht, ob sie von ihrem Manne die Scheidung
erlangte oder nicht; all das war nicht von Wichtigkeit. Nur eines war wichtig und notwendig: er mußte bestraft
werden.
Als sie sich die gewohnte Dosis Opium eingoß und überlegte, daß sie nur das ganze Fläschchen auszutrinken
brauche, um zu sterben, da erschien ihr das als eine so leichte, einfache Sache, daß sie wieder mit einem gewissen
Genuß daran dachte, wie er sich grämen und sein Verhalten bereuen und ihrer in Liebe gedenken werde, wenn es nun zu
spät sein würde. Sie lag mit offenen Augen im Bett und blickte beim Licht einer einzigen, tief herabgebrannten
Kerze nach den Stuckverzierungen der Zimmerdecke und nach dem Schatten des Bettschirms, der einen Teil der Decke
verdunkelte, und stellte sich lebhaft seine
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