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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Staatsangelegenheiten
    und namentlich im Punkte des Krieges auf ihren persönlichen Willen.«
    Sergei Iwanowitsch und Katawasow begannen gleichzeitig, die Erwiderungen, die ihnen schon auf der Zunge
    geschwebt hatten, vorzubringen.
    »Darin liegt ja eben die Schwierigkeit, liebster Freund«, sagte Katawasow, »daß Fälle vorkommen können, wo die
    Regierung den Willen der Bürger nicht erfüllt, und dann bekundet die Bevölkerung ihren Willen.«
    Aber Sergei Iwanowitsch war mit dieser Erwiderung augenscheinlich nicht einverstanden. Er machte zu Katawasows
    Worten ein finsteres Gesicht und äußerte sich in anderer Weise.
    »Du hast die Frage nicht richtig gestellt. Um eine Kriegserklärung handelt es sich hier überhaupt nicht, sondern
    einfach um den Ausdruck menschlichen, christlichen Empfindens. Man mordet unsere Brüder, die mit uns desselben
    Blutes sind, denselben Glauben haben. Nun, setzen wir sogar den Fall, es wären nicht Stammes- und Glaubensgenossen,
    sondern einfach Kinder, Frauen und Greise: auch dann empört sich das Gefühl darüber, und russische Männer eilen
    hin, um zur Beendigung dieser Greuel mitzuwirken. Stelle dir vor, du gingest auf der Straße und sähest, daß ein
    Betrunkener eine Frau oder ein Kind schlägt; ich meine, du würdest dann nicht erst fragen, ob diesem Menschen der
    Krieg erklärt ist oder nicht, sondern würdest dich auf ihn stürzen und den Mißhandelten schützen.«
    »Aber ich würde ihn nicht töten«, versetzte Ljewin.
    »Doch, du würdest ihn töten.«
    »Das weiß ich denn doch nicht. Wenn ich dergleichen sähe, so würde ich mich von meinem unmittelbaren Gefühl
    bestimmen lassen; aber vorhersagen läßt sich so etwas nicht. Ein derartiges unmittelbares Gefühl ist jedoch wegen
    der Unterdrückung der Slawen nicht da und kann auch gar nicht da sein.«
    »Vielleicht nicht bei dir; aber bei anderen ist es vorhanden«, erwiderte Sergei Iwanowitsch und runzelte
    unzufrieden die Stirn. »Im Volke sind noch die Überlieferungen von den Rechtgläubigen lebendig, die unter dem Joche
    der ›grimmen Muselmänner‹, wie es in den Liedern heißt, gelitten haben. Das Volk hat von den Leiden seiner Brüder
    gehört und seine Stimme erhoben.«
    »Mag sein«, antwortete Ljewin nachgiebig. »Aber ich merke es nicht; ich gehöre doch auch zum Volke und habe
    diese Empfindung nicht.«
    »Na, und ich habe sie auch nicht«, fiel der alte Fürst ein. »Als ich im Ausland war und dort die Zeitungen las,
    da habe ich, offen gestanden, noch vor den bulgarischen Greueln schlechterdings nicht begreifen können, weshalb
    alle Russen auf einmal ihre slawischen Brüder so liebgewonnen hatten und ich für meine Person gar keine Liebe zu
    ihnen empfand. Ich war sehr verdrossen und glaubte, ich wäre ein Ungeheuer oder das wäre bei mir die Wirkung von
    Karlsbad. Aber als ich wieder hierher nach Rußland kam, beruhigte ich mich; ich sehe, daß es auch außer mir noch
    Leute gibt, die sich nur für Rußland einsetzen und nicht auch für die slawischen Brüder. So unter anderen auch
    unser Konstantin hier.«
    »Individuelle Ansichten können hier nichts besagen«, versetzte Sergei Iwanowitsch. »Auf individuelle Ansichten
    kommt es nicht an, wenn ganz Rußland, das ganze Volk seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat.«
    »Verzeihen Sie, davon merke ich nichts. Das Volk hat von diesen Dingen keine Ahnung«, sagte der Fürst.
    »Aber nicht doch, Papa ... Wie sollte das Volk nichts davon wissen? Denk doch nur an den letzten Sonntag in der
    Kirche«, sagte Dolly, die das Gespräch mit angehört hatte. »Gib mir, bitte, ein Handtuch«, wandte sie sich an den
    alten Bienenwärter, der lächelnd die Kinder betrachtete. »Es ist ja unmöglich, daß alle ...«
    »Nun, was ist denn am letzten Sonntag in der Kirche geschehen? Der Geistliche war angewiesen worden, etwas
    vorzulesen. Und da hat er es denn vorgelesen. Die Leute verstanden nichts davon und seufzten wie bei jeder
    Predigt«, fuhr der Fürst fort. »Dann wurde ihnen gesagt, es würde in der Kirche gesammelt werden und es sei dem
    Seelenheile förderlich, etwas zu geben; na, da holten sie jeder eine Kopeke heraus und gaben sie; aber wozu sie
    Geld gaben, das wußten sie selbst nicht.«
    »Es ist nicht möglich, daß das Volk das nicht wüßte. Das Bewußtsein seiner Mission ist allezeit im Volke
    vorhanden und wird ihm in Augenblicken wie den jetzigen besonders deutlich«, sagte Sergei Iwanowitsch mit Ernst und
    Nachdruck und sah dabei den alten

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