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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Reifen, ohne Ljewin zu bemerken. Ljewin rief ihn nicht an
    und blieb in der Mitte des Bienenstandes stehen.
    Er freute sich über diese Gelegenheit, einen Augenblick allein zu sein, um sich von den Begebnissen der
    Wirklichkeit wieder zu sammeln, durch die seine gehobene Stimmung bereits wieder so stark herabgedrückt war.
    Er sagte sich, daß er sich inzwischen bereits über Iwan geärgert, sich gegen seinen Bruder kühl benommen und mit
    Katawasow in unüberlegter Weise zu reden angefangen hatte.
    ›Ist das wirklich nur eine augenblickliche Stimmung gewesen, die, ohne eine Spur zu hinterlassen, vorübergeht?‹
    dachte er.
    Aber in demselben Augenblick kehrte er auch wieder zu seiner gehobenen Stimmung zurück und wurde sich mit Freude
    bewußt, daß doch etwas Neues und Wichtiges in seinem Innern vorgegangen war. Die Außenwelt hatte nur für kurze Zeit
    die seelische Ruhe, die er gefunden hatte, verdeckt; aber diese Ruhe war in seiner Seele unversehrt geblieben.
    Ebenso wie die ihn jetzt umschwirrenden, ihn bedrohenden und seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmenden Bienen
    ihn eines Teiles seiner körperlichen Ruhe beraubten und ihn zwangen, sich schmal zu machen, um ihnen auszuweichen,
    genauso hatten auch die Sorgen, die ihn von dem Augenblick an umringt hatten, als er in das Wägelchen gestiegen
    war, seine seelische Freiheit beeinträchtigt; aber das hatte nur so lange gedauert, wie er mitten unter ihnen war.
    Wie er trotz der Bienen im vollen Besitz seiner Körperkraft geblieben war, so war auch seine seelische Kraft, deren
    er sich jetzt von neuem bewußt wurde, unversehrt.

15
    »Weißt du auch, Konstantin, mit wem Sergei Iwanowitsch bei der Reise hierher in demselben Zuge gefahren ist?«
    fragte Dolly, nachdem sie Gurken und Honig unter die Kinder verteilt hatte. »Mit Wronski! Er geht nach
    Serbien!«
    »Und nicht er allein für seine Person, sondern er führt eine ganze Schwadron auf seine Kosten mit!« fügte
    Katawasow hinzu.
    »Das sieht ihm ähnlich«, sagte Ljewin. »Ziehen denn immer noch Freiwillige hin?« fuhr er fort und blickte dabei
    Sergei Iwanowitsch an.
    Sergei Iwanowitsch nahm, ohne zu antworten, vorsichtig mit einem Messerrücken aus einer Untertasse, auf der eine
    weiße Honigscheibe lag, eine noch lebende Biene heraus, die in dem herausgeflossenen Honig klebengeblieben war.
    »Und ob! Sie hätten nur sehen sollen, was gestern auf dem Bahnhof in Moskau für ein Treiben war!« erwiderte
    Katawasow und biß geräuschvoll in eine Gurke hinein.
    »Wie soll man das eigentlich auffassen? Erklären Sie mir doch, um des Himmels willen, Sergei Iwanowitsch, wohin
    ziehen denn alle diese Freiwilligen? Mit wem führen sie Krieg?« fragte der alte Fürst, offenbar in Fortsetzung
    eines Gesprächs, das schon vor Ljewins Anwesenheit angefangen hatte.
    »Mit den Türken«, erwiderte Sergei Iwanowitsch mit ruhigem Lächeln. Er hatte nun die vom Honig dunkel gewordene
    Biene, die hilflos mit den Beinchen umherarbeitete, glücklich befreit und setzte sie mit dem Messer auf ein festes
    Espenblatt.
    »Aber wer hat denn den Türken den Krieg erklärt? Etwa Iwan Iwanowitsch Ragosow und die Gräfin Lydia Iwanowna und
    Madame Stahl?«
    »Den Krieg hat ihnen niemand erklärt. Die Leute haben eben Mitleid mit den Leiden ihrer Mitmenschen und möchten
    ihnen helfen«, antwortete Sergei Iwanowitsch.
    »Aber der Fürst spricht nicht vom bloßen Helfen«, bemerkte Ljewin, der für seinen Schwiegervater eintrat,
    »sondern vom Kriegführen. Der Fürst meint, daß Privatpersonen ohne Genehmigung der Regierung sich nicht an einem
    Kriege beteiligen dürfen.«
    »Konstantin, sieh nur, da ist eine Biene! Sie werden uns wahrhaftig noch ganz zerstechen«, sagte Dolly, indem
    sie eine Wespe wegscheuchte.
    »Aber das ist ja keine Biene; das ist eine Wespe«, erwiderte Ljewin.
    »Na aber, was haben Sie da für eine wunderliche Theorie?« sagte Katawasow lächelnd zu Ljewin; er wollte ihn
    offenbar zu einem Streite herausfordern. »Warum sollten Privatpersonen dazu kein Recht haben?«
    »Meine Anschauung ist die: erstens ist der Krieg etwas so Tierisches, Grausames und Schreckliches, daß kein
    Mensch, geschweige denn ein Christ es persönlich verantworten kann, einen Krieg zu beginnen; das kann nur die dazu
    berufene Regierung, wenn sie sich unvermeidlich zum Kriege gedrängt sieht. Und zweitens verzichten, wie das sowohl
    die theoretische Wissenschaft wie auch der gesunde Menschenverstand verlangt, die Bürger in

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