Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
vermindert und der Erfolg der Badekur gleich Null sei. Er verordnete ihm möglichst viel körperliche Bewegung und möglichst wenig geistige Anstrengung und vor allen Dingen Vermeidung aller Aufregung, also gerade etwas, was für Alexei Alexandrowitsch ebenso unmöglich war wie die Unterlassung des Atemholens. Und als der Arzt sich entfernt hatte, blieb Alexei Alexandrowitsch mit dem unangenehmen Bewußtsein zurück, daß irgend etwas mit ihm nicht richtig sei und daß es dafür keine Heilung gebe.
Als der Arzt von Alexei Alexandrowitsch weggegangen war, stieß er auf den Stufen vor der Haustür mit dem ihm wohlbekannten Herrn Sljudin, dem Subdirektor Alexei Alexandrowitschs, zusammen. Sie kannten sich von der Universität her, und obgleich sie jetzt nur selten miteinander zusammenkamen, schätzten sie sich doch wechselseitig sehr und waren gute Freunde; und darum sprach der Arzt zu Sljudin seine Meinung über den Patienten offenherziger aus, als er es irgendeinem anderen gegenüber getan haben würde.
»Wie freue ich mich, daß Sie bei ihm gewesen sind«, sagte Sljudin. »Er ist nicht recht gesund, und mir scheint ... Nun, wie steht es?«
»Die Sache ist die«, antwortete der Arzt und winkte über Sljudins Kopf hinweg seinem Kutscher zu, er möchte vorfahren, »die Sache ist die«, sagte er noch einmal, indem er einen Finger eines seiner Glacéhandschuhe mit seinen beiden weißen Händen faßte und straff zog, »wenn Sie eine Saite nicht spannen und sie in diesem Zustand zu zerreißen versuchen, so ist das sehr schwer; aber spannen Sie sie bis zum äußersten Grade der Möglichkeit an und üben Sie dann nur einen mäßigen Druck mit dem Finger aus, so wird sie reißen. Und er bei seiner unausgesetzten Tätigkeit, bei seiner Gewissenhaftigkeit im Arbeiten, er ist bis zum äußersten Grade angespannt, und ein anderweitiger Druck ist vorhanden, und zwar ein recht schwerer Druck«, schloß der Arzt und zog dabei die Brauen bedeutsam in die Höhe. »Werden Sie bei dem Rennen sein?« fügte er hinzu, während er in den Wagen stieg, der inzwischen vorgefahren war. »Ja, ja, selbstverständlich, es raubt einem viel Zeit«, antwortete er noch auf etwas, was Sljudin gesagt, er selbst aber nicht mehr deutlich verstanden hatte.
Nach dem Arzte, dessen Besuch soviel Zeit gekostet hatte, erschien der berühmte Reisende, und Alexei Alexandrowitsch, der sowohl seine früheren Kenntnisse von diesem Gegenstande wie auch die soeben beim Lesen der Schrift neugewonnenen im Gespräche verwertete, überraschte den Reisenden durch sein tiefes Wissen auf diesem Gebiete und durch seinen weitreichenden, klaren Blick für diese Dinge.
Zugleich mit dem Reisenden wurde ihm auch der Besuch eines Gouvernements-Adelsmarschalls gemeldet, der nach Petersburg gekommen war und mit dem er verhandeln mußte. Nachdem dieser wieder gegangen war, mußte die ›Handwerksarbeit‹ mit dem Subdirektor zu Ende geführt werden, und dann mußte sich Alexei Alexandrowitsch noch wegen einer sehr ernsten, wichtigen Sache zu einer hochgestellten Persönlichkeit begeben. Er brachte es nur mit Mühe fertig, um fünf Uhr, der von ihm für das Mittagessen festgesetzten Zeit, zurück zu sein, und nachdem er mit seinem Subdirektor zusammen gespeist hatte, lud er diesen ein, mit ihm nach dem Landhause und zum Rennen zu fahren.
Ohne sich selbst über den Grund dieser Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, suchte Alexei Alexandrowitsch es jetzt immer so einzurichten, daß er mit seiner Frau nur in Gegenwart eines Dritten zusammen war.
27
A nna stand im oberen Stockwerk vor dem Spiegel und steckte mit Annuschkas Hilfe die letzte Schleife an ihr Kleid, als sie vor der Haustür das knirschende Geräusch von Rädern auf dem Kies hörte.
›Für Betsy ist es noch zu früh‹, dachte sie, sah durch das Fenster und erblickte den Wagen, aus dem eben Alexei Alexandrowitsch seinen Kopf mit dem schwarzen Hute und den ihr so wohlbekannten Ohren heraussteckte. ›Das kommt mir unerwünscht; er wird doch nicht die Nacht über hierbleiben?‹ dachte sie, und alle die Folgen, die das haben konnte, erschienen ihr so entsetzlich und furchtbar, daß sie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit heiterem, strahlendem Gesichte aus dem Zimmer den beiden Herren entgegenging; sie fühlte, daß der ihr schon wohlbekannte Geist der Lüge und des Truges in ihr wieder lebendig wurde, überließ sich sofort seinen Eingebungen und begann zu reden,
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