Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ihr nur sagen, o mein Gott! Was habe ich getan, was habe ich gesagt? Warum habe ich sie so gekränkt? Was soll ich nun machen? Was soll ich ihr sagen?‹ dachte Kitty und blieb an der Tür stehen.
Warjenka saß mit dem Hute auf dem Kopfe am Tische; in den Händen hatte sie den Sonnenschirm und betrachtete die Feder, die Kitty zerbrochen hatte. Sie hob den Kopf in die Höhe.
»Warjenka, verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir!« flüsterte Kitty, zu ihr tretend. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich ...«
»Ich hatte Sie wirklich nicht kränken wollen«, meinte Warjenka lächelnd.
Der Friede war geschlossen. Aber mit der Ankunft des Vaters hatte sich für Kitty jene ganze Welt, in der sie zuletzt gelebt hatte, verändert. Sie sagte sich zwar nicht von allem los, was sie kennengelernt hatte; aber sie sah ein, daß sie sich getäuscht hatte, als sie geglaubt hatte, sie könne das sein, was sie sein wollte. Sie erwachte gleichsam aus einer Betäubung; sie wurde sich der ganzen Schwierigkeit bewußt, sich ohne Heuchelei und Prahlerei auf der Höhe zu erhalten, zu der sie sich hatte erheben wollen. Außerdem drückte auf ihr Gemüt diese ganze Umgebung voller Kummer, Krankheiten und Sterbender, in der sie jetzt lebte. Die Anstrengungen, mit denen sie sich hatte zwingen wollen, all dies zu lieben, erschienen ihr als eine Qual, und sie sehnte sich danach, so bald wie möglich wieder in frische Luft zu kommen, nach Rußland, nach Jerguschowo, wohin, wie sie aus einem Briefe erfahren hatte, ihre Schwester Dolly mit den Kindern bereits übergesiedelt war.
Aber ihre Liebe zu Warjenka hatte sich nicht vermindert. Beim Abschied bat Kitty sie inständig, doch zu ihnen nach Rußland zu Besuch zu kommen.
»Ich komme, wenn Sie verheiratet sein werden«, erwiderte Warjenka.
»Ich heirate nie.«
»Nun, dann komme ich auch niemals.«
»Nun, dann will ich nur deswegen heiraten. Aber denken Sie auch an Ihr Versprechen! Hören Sie wohl?« betonte Kitty.
Die Voraussage des Arztes hatte sich bewahrheitet. Kitty kehrte in die Heimat, nach Rußland, geheilt zurück. Sie war zwar nicht mehr so sorglos und heiter wie früher; aber sie war ruhig in ihrem Gemüte. Der Moskauer Kummer war nur noch eine Erinnerung.
DRITTER TEIL
1
S ergei Iwanowitsch Kosnüschew wollte sich von der geistigen Arbeit erholen und reiste daher, statt sich nach seiner Gewohnheit ins Ausland zu begeben, Ende Mai zu seinem Bruder aufs Land. Nach seiner Überzeugung war das Leben auf dem Lande das beste, das man sich überhaupt nur denken konnte. Um dieses Leben gründlich zu genießen, kam er jetzt zu seinem Bruder. Konstantin Ljewin war über seine Ankunft sehr erfreut, um so mehr, da er seinen Bruder Nikolai für diesen Sommer nicht mehr erwartete. Aber trotz all seiner Liebe und Verehrung für Sergei Iwanowitsch war ihm das Zusammenleben mit diesem auf dem Lande nicht recht behaglich. Es war ihm unbehaglich, ja geradezu peinlich, zu sehen, welche Stellung sein Bruder dem Landleben gegenüber einnahm. Für Konstantin Ljewin war das platte Land die Stätte seines Daseins, das heißt seiner Freuden, seiner Leiden, seiner Arbeit; für Sergei Iwanowitsch war das Landleben einerseits eine Erholung von der Arbeit, anderseits ein nützliches Gegengift gegen die städtische Verderbtheit, das er mit Genuß und mit dem Bewußtsein seiner Nützlichkeit einnahm. Für Konstantin Ljewin war das platte Land deswegen so schön, weil es ihm ein Arbeitsfeld darbot, und zwar ein Feld für eine unzweifelhaft nützliche Arbeit; für Sergei Iwanowitsch besonders deswegen, weil es einem dort möglich, ja sogar eine Art Pflicht war, sich dem Müßiggange hinzugeben. Außerdem war auch Sergei Iwanowitschs Verhältnis zum Landvolk nicht nach Konstantins Geschmack. Sergei Iwanowitsch pflegte zu sagen, er liebe das Landvolk und kenne es genau, und unterhielt sich oft mit den Bauern, was er sehr gut, ohne Verstellung und Heuchelei, fertig brachte, und aus jedem derartigen Gespräche zog er allgemeine Schlußfolgerungen zum Beweise der Vortrefflichkeit des Landvolkes und zum Beweise seiner genauen Kenntnis des Bauernlebens. Eine solche Stellungnahme dem Landvolk gegenüber mißfiel Konstantin Ljewin. Für ihn war das Landvolk nur der wichtigste Teilnehmer an der gemeinsamen Arbeit, und trotz seiner Achtung vor dem Bauernstande und seiner sozusagen verwandtschaftlichen Liebe zu ihm, die er, wie er selbst sagte,
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