Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wahrscheinlich mit der Milch seiner bäuerlichen Amme eingesogen hatte, war er mit diesem Mitarbeiter keineswegs zufrieden: mitunter zwar geriet er in Entzücken über die Kraft, die Sanftmut und das Gerechtigkeitsgefühl dieser Leute; aber sehr oft, wenn bei der gemeinsamen Arbeit auch noch andere Eigenschaften erfordert wurden, packte ihn ein wahrer Ingrimm über dieses Volk wegen seiner Achtlosigkeit, Unordentlichkeit, Trunksucht und Verlogenheit. Hätte jemand Konstantin Ljewin gefragt, ob er das Landvolk liebe, so würde er entschieden nicht gewußt haben, was er darauf antworten solle. Er liebte das Landvolk und liebte es auch wieder nicht, gerade wie er es mit der Menschheit im allgemeinen tat. Selbstverständlich konnte man von ihm, einem so gutherzigen Menschen, mit größerem Rechte sagen, daß er die Menschheit liebte, als daß er sie nicht liebte; und geradeso war es deshalb auch mit seiner Stellung dem Landvolke gegenüber. Aber das Landvolk wie ein besonderes Wesen zu lieben oder nicht zu lieben, dazu war er nicht imstande, nicht nur weil er mit dem Landvolke lebte und alle seine Interessen mit denen des Landvolkes eng verknüpft waren, sondern auch weil er sich selbst als einen Teil des Landvolkes betrachtete, zwischen sich und dem Landvolke keinen eigentlichen Unterschied in bezug auf gute und schlechte Eigenschaften wahrnahm und seine Person dem Landvolke nicht als etwas grundsätzlich Verschiedenes gegenüberzustellen vermochte. Dazu kam noch folgendes: Obgleich er lange Zeit in den engsten Beziehungen mit den Bauern gelebt hatte, als Gutsherr und als Schiedsrichter und ganz besonders als Ratgeber (denn die Bauern hatten Vertrauen zu ihm und kamen von vierzig Werst weit her, um ihn um Rat zu fragen), so hatte er trotzdem ganz und gar kein bestimmtes Urteil über das Landvolk und würde durch die Frage, ob er das Landvolk kenne, ebenso in Verlegenheit gesetzt worden sein wie durch die Frage, ob er das Landvolk liebe. Zu behaupten, daß er das Landvolk kenne, hätte für ihn auf derselben Stufe gestanden, wie zu behaupten, daß er die Menschen kenne. Er stellte beständig seine Beobachtungen an und lernte Menschen von jeder Art kennen (darunter auch aus dem Bauernstande Leute, die er für brave, interessante Menschen halten mußte), entdeckte unaufhörlich an ihnen neue Charakterzüge, änderte sein früheres Urteil über sie und bildete sich ein neues. Ganz anders Sergei Iwanowitsch. Gerade wie er das Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso liebte er auch das Landvolk im Gegensatze zu einer Menschenklasse, die er nicht liebte, und ebenso sah er das Landvolk als etwas der Menschheit im allgemeinen Gegenüberstehendes an. In seinem Geiste, der alles gern in einen gewissen Zusammenhang brachte, hatte er sich bestimmte, scharf umrissene Vorstellungen vom Leben des Landvolkes zurechtgemacht, die er allerdings zum Teil aus dem wirklichen Leben des Landvolkes abgeleitet, hauptsächlich aber aus dem Gegensatze gebildet hatte. Niemals änderte er seine Meinung über das Landvolk, und niemals geriet sein Wohlwollen für dieses ins Wanken.
Wenn zwischen den Brüdern Meinungsverschiedenheiten in der Beurteilung des Landvolkes zur Sprache kamen, so war Sergei Iwanowitsch seinem Bruder immer gerade dadurch überlegen, daß er fest bestimmte Begriffe vom Landvolke, von seinem Charakter, von seinen Eigenschaften und Bestrebungen hatte; Konstantin Ljewin hingegen besaß hiervon keine bestimmten, unveränderlichen Begriffe, so daß er bei diesen Erörterungen sich leicht auf Widersprüchen mit sich selbst ertappen ließ.
Nach Sergei Iwanowitschs Urteil war sein jüngerer Bruder ein prächtiger junger Mensch, der, wie er sich auf französisch ausdrückte, ›le cœur bien placé‹, das Herz auf dem rechten Flecke habe, dessen Denken aber, bei allerdings ziemlich rascher Auffassung, doch gar zu sehr von den Eindrücken des Augenblicks abhängig und darum nicht frei von Widersprüchen sei. Mit der freundlichen Herablassung des älteren Bruders erklärte er ihm manchmal die eigentliche Bedeutung der Dinge, konnte aber an einem Meinungsaustausch mit ihm kein Vergnügen finden, weil dieser ihm den Sieg gar zu leicht machte.
Konstantin Ljewin hielt seinen Bruder für einen Mann von gewaltigem Verstande und hervorragender Bildung, für einen edlen Menschen im höchsten Sinne des Wortes, dazu noch mit der Fähigkeit ausgestattet, für das Wohl der Gesamtheit zu
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