Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wirken. Aber je älter er wurde und je genauer er seinen Bruder kennenlernte, um so häufiger kam ihm im tiefsten Grunde der Seele der Gedanke, daß diese Fähigkeit, für das Wohl der Gesamtheit zu wirken (eine Fähigkeit, deren er sich selbst völlig bar wußte), vielleicht gar kein Vorzug, sondern im Gegenteil ein Mangel sei, nicht ein Mangel an guten, ehrlichen, edlen Wünschen und Bestrebungen, sondern ein Mangel an Lebenskraft, ein Mangel an dem, was man Herz nennt, ein Mangel an jenem Streben, das den Menschen zwingt, aus all den zahllosen sich darbietenden Lebenswegen einen einzigen zu wählen und diesem sein ganzes Interesse zuzuwenden. Je mehr er seinen Bruder kennenlernte, um so deutlicher nahm er wahr, daß Sergei Iwanowitsch (ganz ebenso wie viele andere Männer, die für das Beste der Gesamtheit wirkten) nicht durch sein Herz zu diesem Interesse am Besten der Gesamtheit hingeführt, sondern durch die Tätigkeit des Verstandes zu der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit dieser Beschäftigung gelangt war und sich eben nur deshalb dieser Beschäftigung widmete. In dieser Auffassung wurde Ljewin noch durch die Beobachtung bestärkt, daß seinem Bruder die Fragen nach dem Besten der Gesamtheit und nach der Unsterblichkeit der Seele nicht in höherem Grade zu Herzen gingen als die Fragen, die eine Schachpartie oder die sinnreiche Bauart einer neuen Maschine betrafen.
Außerdem brachte für Konstantin Ljewin das Zusammenleben mit seinem Bruder auf dem Lande auch insofern eine Unbequemlichkeit mit sich, als Ljewin auf dem Lande, namentlich im Sommer, beständig mit der Wirtschaft zu tun hatte und der lange Sommertag nicht ausreichte, um alles, was nötig war, zu schaffen, Sergei Iwanowitsch dagegen sich ausruhte. Aber obgleich er sich jetzt ausruhte, das heißt nicht an seinem Buche arbeitete, so war er doch an geistige Tätigkeit dermaßen gewöhnt, daß er gern die Gedanken, die ihm kamen, in schöner, gedrängter Form aussprach und gern einen Zuhörer dafür hatte. Der gegebene und natürliche Zuhörer aber war sein Bruder. Und darum war es trotz der freundschaftlichen Zwanglosigkeit ihres Verkehrs Konstantin peinlich, ihn allein zu lassen. Sergei Iwanowitsch liebte es, sich in der prallen Sonne aufs Gras zu legen und, während er sich so braten ließ, gemächlich zu plaudern.
»Du glaubst gar nicht«, sagte er zu seinem Bruder, »welch ein Genuß dieses Faulenzerleben für mich ist. Im Kopfe habe ich keinen einzigen Gedanken; alles ist wie ausgefegt.«
Aber dem Jüngeren war es langweilig, so dazusitzen und ihm zuzuhören, besonders da er wußte, daß die Leute, wenn er nicht dabei wäre, den Dünger auf das Feld bringen würden, ohne das Feld vorher ordentlich in Beete abzuteilen, und ihn, wenn er es nicht beaufsichtigte, Gott weiß wie hinwerfen würden und daß sie die Pflugmesser an den neuen Pflügen nicht ordentlich anschrauben würden, so daß sie losgingen, und dann sagen würden, diese neuen Pflüge, das sei doch eine törichte Erfindung, da seien die alten Hakenpflüge eine ganz andere Sache, und so weiter.
»Lauf doch nicht soviel in der Hitze umher!« sagte Sergei Iwanowitsch zu ihm.
»Ach, ich möchte nur für einen Augenblick mal ins Kontor gehen«, antwortete Ljewin und lief aufs Feld.
2
A nfang Juni ereignete sich ein Unfall: die alte Kinderfrau und Wirtschafterin Agafja Michailowna trug einen Steintopf mit Pilzen, die sie soeben eingesalzen hatte, in den Keller, glitt dabei aus, fiel und verstauchte sich das Handgelenk. Man ließ den Landschaftsarzt kommen, einen jungen, geschwätzigen Menschen, der erst vor kurzem die Universität verlassen hatte. Er untersuchte die Hand, erklärte, sie sei nicht ausgerenkt, und ließ sich mit größtem Vergnügen in ein Gespräch mit dem berühmten Sergei Iwanowitsch Kosnüschew ein; um dabei seine aufgeklärten Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, erzählte er ihm alle möglichen Klatschgeschichten aus dem Kreise und führte bittere Klage über die schlechten Zustände in der Verwaltung auf dem Lande. Sergei Iwanowitsch hörte ihm aufmerksam zu und stellte seinerseits manche Fragen; angeregt dadurch, daß er einmal einen neuen Zuhörer hatte, wurde auch er gesprächig, machte einige scharf betonte, gewichtige Bemerkungen, die der junge Arzt mit achtungsvoller Wertschätzung aufnahm, und geriet so in jene, seinem Bruder wohlbekannte, angeregte Stimmung, die sich bei ihm gewöhnlich nach einem lebhaften,
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